Angstspiel
gerechnet, geahnt, dass er der Verursacher sein könnte. Und dann? Was hat er gemacht? Nichts.
Bis jetzt.
Oder ist er jetzt aktiv geworden?
Könnte es sein, dass er heimlich in mein Leben getreten ist?
Ich schiebe den Gedanken an den Rand meines Kopfes. Wieso sollte er? Rache? Hasst er meine Mutter?
»Wie hieß meine Mutter?«, will Luise wissen.
»Ute«, sagt mein Vater leise. Er sagt es sehr zärtlich.
»Wenn du willst, können wir mal zusammen an ihr Grab gehen.«
Luise hat ein Grab, an das sie gehen kann. Luise hat plötzlich zwei Mütter und einen Vater. Ich habe nur noch eine Mutter. Ich war nur ein Fick.
»Warum habt ihr uns so belogen?«
Die Frage fällt aus meinem Mund wie Erbrochenes.
Sie gucken sich an. Verzweifelt irgendwie.
»Das wollten wir ja eigentlich nicht. Es hat sich so ergeben«, sagt meine Mutter irgendwann.
»Es hat sich so ergeben?«
Wie praktisch.
Mein Vater lehnt sich nach vorne.
»Wir wollten es euch sagen. Natürlich. Wir haben so oft darüber gesprochen, wann der richtige Zeitpunkt ist. Wir hatten immer das Gefühl, dass es noch zu früh ist. Dass wir euch mit der Wahrheit verletzen.«
»Lügen verletzen mehr«, sage ich nur.
»Das wissen wir. Vor allem verletzt es euch, dass nicht wir es euch gesagt haben. Dass ihr von außen die Wahrheit erfahren habt. Das macht mich unendlich traurig. Woher hast du überhaupt diese Kopien?«
Es ist das erste Mal, dass mein Vater etwas fragt.
»Ist doch egal.«
»Ich finde das nicht egal«, mischt Luise sich ein. »Wer hat ein Interesse daran, dass wir das erfahren? Oder bist du von dir aus auf die Suche gegangen?«
Ich schüttele den Kopf.
»Irgendjemand wollte, dass wir das herausfinden, und hat mir die Kopien geschickt.«
Ich kann den Blick, den meine Eltern - ich habe noch kein anderes Wort für das Paar mir gegenüber - sich zuwerfen, nicht deuten. Aber sie sehen alarmiert aus.
Irgendwann beschließen wir, eine Pause zu machen. Später weiterzureden. Wir können alle nicht mehr. Ich fühle
mich wie auf links gezogen. Als ich runter in mein Zimmer gehe, kommt Luise hinter mir her. Sie lässt sich mit einer Kleenex-Packung in der Hand in meinen Sessel fallen. Ich bleibe stehen.
»Ich fühle mich so leer«, sagt sie leise. Ihre Augen sehen aus, als hätte sie einen furchtbaren Heuschnupfen.
Ich fühle mich nicht leer. Ich bin randvoll mit Wut und Angst. Ich könnte bersten. Irgendjemand hat eine Bowlingkugel in mein Leben geworfen. Um mich herum sind alle Kegel gefallen. Ich stehe da noch. Allein, wackelig. Und ich ahne, die nächste Kugel kommt.
»Ich möchte eigentlich alleine sein«, sage ich zu meiner Schwester, die sie ja eigentlich nicht ist. Ihr Blick sagt: »Ich aber nicht.« Trotzdem steht sie auf. Als sie an mir vorbeigeht, streichelt sie kurz meine Hand. Ihre Finger sind warm. Meine Haut fühlt sich hart an. Kalt. Eigentlich tot.
Das Ganze könnte auch in einer Pension spielen. Zwei Mädchen sitzen zufällig mit einem Ehepaar am Tisch und frühstücken.
»Kann ich bitte mal die Butter haben?«
»Möchte noch jemand eine Tasse Kaffee?«
Fehlt nur noch, dass wir uns siezen. Es ist nicht kühl, aber ich habe eine leichte Gänsehaut. Meine Mutter bewegt sich langsam, übermüdet. Mein Vater ist immer eine Spur zu schnell. Natürlich denke ich noch »Vater«. Das kann ich über Nacht nicht abstellen. So gerne ich es wollte. Und ich weiß gar nicht, ob ich es will. Ich habe mir gerade erst einen Toast auf den Teller gelegt, da reicht er mir schon die Margarine. Er holt sofort neue Milch aus dem Kühlschrank, als die vorhandene für Luises Cornflakes nicht reicht. Er ist so fürchterlich bemüht.
»Vielleicht können wir uns heute Nachmittag ja noch mal zusammensetzen«, schlägt er irgendwann vor.
»Vielleicht möchtest du ja auch Fotos von Ute sehen«, wendet er sich an Luise.
Mir wird nichts angeboten. Was auch?
Irgendwann hat meine Mutter gestern noch zugegeben, dass es im Urlaub passiert ist. Auf Sardinien. Vielleicht könnte ich mir ja auf Google-Maps das Hotel oder den Strand angucken. Wo genau meine Mutter diesen grässlichen One-Night-Stand hatte, habe ich dann gar nicht mehr gefragt.
Ich beneide Luise, als sie geht. Gehen darf. Sie darf zurück in ihre normale Welt. Wo die Menschen heute noch das sind, was sie gestern waren. Ich muss hierbleiben. Selbst wenn ich gehen könnte, meine Welt außen ist doch nur noch eine Bedrohung. Draußen kann ich den Horror von hier drinnen nur vergessen,
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