Angstspiel
weil ein neuer Horror auf mich wartet.
Um kurz vor zehn bin ich am Wohnstift. Ich möchte noch mal mit Frau Knorr reden. Sie hat es gewusst. Natürlich. Sie hat mich und Luise aus zwei unterschiedlichen Bäuchen geholt. Paranoid wie ich mittlerweile bin, habe ich mich unten aus der Gartentür geschlichen, und zwar in einer Jacke meiner Mutter. Falls er mir auflauert, kann ich ihn so vielleicht täuschen.
Frau Knorr ist überhaupt nicht verwundert, dass ich sie noch mal besuche.
»Hast du mit deinen Eltern gesprochen?«
»Ja. Mit meiner Mutter und ihrem Mann vielmehr.«
»Es ist hart, oder?«
»Ja. Sehr.«
»Es war für sie damals auch hart. Vor allem für deinen Vater.«
»Für Luises Vater.«
»Du solltest versuchen, ihn nicht zu verurteilen. Ich sage
nicht, dass du dich in ihn hineinversetzen sollst. Das kann niemand. Aber er wollte sicherlich niemanden verletzen. Dafür ist er selber zu sehr verletzt worden.«
»Wie ist Luises Mutter gestorben?«
»Sie ist verblutet. Es gab Komplikationen, die niemand erwartet hatte. Die Medizin ist so weit. Wir können so viel. Aber eine Geburt ist immer noch ein Wunder. Ein Wunder, das auch mal schiefgehen kann. Daran denken viele nicht.«
Ich will jetzt kein Verständnis aufbringen.
Sie fährt fort: »Ich weiß nicht, ob dein Vater das alles ohne deine Mutter geschafft hätte. Ich glaube nicht. Sie war so randvoll mit Glück. Die ist richtig übergesprudelt vor Lebensfreude. Und ein ganz klein bisschen davon ist auf deinen Vater übergesprungen.«
Nachdenklich sage ich: »So verliebt war sie gleich in ihn. Strange irgendwie.«
Frau Knorr guckt mich überrascht durch ihre sieben Dioptrien an.
»In ihn? In dich. Sie war so vernarrt in dich. Sie hat dich ungefähr stündlich gewickelt, weil sie so einen Spaß daran hatte, wenn du nackt vor ihr gelegen hast. Sie hat dich von oben bis unten beschnuppert, dich angeprustet, deine Finger geküsst. Wir haben manchmal gescherzt, dass du wohl ihre erste große Liebe bist.«
Komisch. Das macht mich nicht glücklich. Eher sentimental. Wieso musste ich sie dann teilen? Mit Luise und deren Vater?
Nein. Ich will so nicht denken. Ich will jetzt nicht alle Erinnerungen infrage stellen. Alle Geburtstage alleine? Diese langweiligen Sommerferien in den Bergen? Die Abende, wenn meine Eltern sich stritten und Luise und ich uns in ihrem Bett eine schalldichte Bude gebaut haben. Die ersten Schminkversuche mit der Anleitung aus
der »Brigitte« und einem abgebrochenen Helena-Rubinstein-Lippenstift. Der Versuch von Luise und mir, Parfum zu mischen, weil uns leider Mamas Flakon ausgelaufen war. Unsere Demonstrationen für mehr Taschengeld mit selbst gemalten Transparenten. Wir sind drei Mal damit vor unserem Haus hoch- und runtergelaufen, ehe wir reingeholt wurden.
Ich habe das Gefühl, einen Dampfkochtopf ein bisschen zu früh geöffnet zu haben. Die Erinnerungen fliegen mir nur so um die Ohren. Es nimmt kein Ende. Und manche sind so schön, dass ich mich fast an ihnen verbrenne.
Eine Frage ist auch noch mit in dem Topf.
»Das müssen doch damals viele mitbekommen haben.«
»Was?«
Frau Knorr war offenbar in ihren eigenen Erinnerungen abgetaucht.
»Dass unsere Eltern uns belogen haben. Dass sie uns wie Zwillinge behandelt haben. Dass zwei völlig fremde Mädchen zu Geschwistern gemacht werden.«
»Ihr wurdet nicht zu Geschwistern gemacht. Ihr seid zu Schwestern geworden. Geboren am selben Tag. Eure Eltern sind mit euch zusammen spazieren gegangen. Deine Mutter hat Luise mit in Krabbelgruppen genommen, weil dein Vater das zeitlich nicht geschafft hat. Da hat sich keiner was bei gedacht. Ich glaube, ich war die Einzige, die ganz früh gespürt hat, was da zwischen ihnen wuchs. Ich glaube, sogar vor ihnen.«
»Und Sie wussten auch, dass wir als Zwillinge aufgewachsen sind?«
»Ja. Ich habe das beim Geburtstagsgespräch erfahren und bin dann später noch eine Weile mit ihr in Kontakt geblieben. Das Geburtstagsgespräch mache ich bei allen Müttern, deren Kinder ich auf die Welt bringe. Einen Tag
vor dem ersten Geburtstag des Kindes rufe ich sie an. Frage, wie es ihnen geht. Denn am Geburtstag selber dreht sich ja immer alles ums Kind. Nie um die Mutter. Obwohl die ja eigentlich die Leistung vollbracht hat. Ich rede dann mit den Müttern noch mal über diesen wichtigen Tag. Ich glaube, das tut denen gut. Als ich deine Mutter einen Tag vor deinem ersten Geburtstag angerufen habe, hat sie es mir erzählt. Überrascht war ich
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