Angstspiel
herum ist alles weggebrochen. Ich bin ein Eisbär in der Klimakatastrophe. Alle Eisschollen um mich
herum sind abgedriftet, geschmolzen. Da ist nichts mehr. Familie, Freundin, Mitschüler. Weg. Ich kann nirgendwo mehr hingehen. Und deswegen muss ich raus hier. Sonst frisst die Angst mich auf. Die Bedrohung, die Kälte ist übermächtig geworden. Ich will überleben.
»Wohin möchtest du denn?«, fragt meine Mutter endlich.
Ich zucke die Schultern. Über die Antwort habe ich ja selber schon vergeblich nachgedacht.
Luise steht abrupt auf, ihr Stuhl kippt.
»Können wir mal reden?« Ihre Augen durchbohren mich fast.
Ich nicke langsam, lege mir schnell zwei Scheiben Brot, ein paar Scheiben Käse auf den Teller, nehme ihn mit und gehe ihr hinterher in »unsere Etage«. Sie schließt leise ihre Zimmertür hinter uns, dreht sich wütend zu mir um.
»Was soll das?«
Ich gucke die Scheibletten an. »Was denn?«
Zeit gewinnen. Ihre Wut verdampfen lassen.
»Dass du weg willst? Seit Tagen laufe ich dir hinterher und du weichst mir aus, als wäre ich in Hundekacke getreten. Du behandelst mich wie eine Fremde. Das macht mich krank.«
»Sind wir nicht eigentlich auch Fremde und leben nur zufällig unter demselben Dach?«, frage ich vorsichtig.
»Das ist nicht dein Ernst, oder?« Sie dreht sich zu ihrer Pinnwand. Da hängen Bilder über Bilder.
Wir beim Schokokusswettessen, beim Eislaufen, als Prinz und Prinzessin, schlafend, lachend, schmollend.
Sie zeigt auf jedes einzelne: »Fremd. Fremd. Fremd. Komisch. Fremd sieht doch irgendwie anders aus, oder?«
Es zerreißt mich. Ich würde mich gerne in ihre Arme kuscheln, über irgendwas kichern, wenn es sein muss, mich auch streiten. Ich kann es nicht. Das Band zwischen
uns war immer unsichtbar. Habe ich gedacht. Vielleicht ist es gar nicht da.
»Ich weiß nicht mehr, was ich denken soll. Das möchte ich herausfinden«, sage ich sachlich.
»Und das kannst du nicht hier?«
»Ihr seid mir zu nah und gleichzeitig zu weit weg«, höre ich mich sagen.
»Lass mich nicht allein«, bittet Luise plötzlich. Sie ist so weich. So verletzlich. Ganz leise fügt sie an: »Ich brauche dich doch.«
Es tut mir so weh, aber die Kluft zwischen uns ist zu groß, zu breit. Ich traue mich nicht.
»Du bist nie alleine, Luise. Du hast dich. Du hast eine Mutter, die dich bestimmt sehr geliebt hat. Die sich wahrscheinlich unbändig auf dich gefreut und die für dich ihr Leben gelassen hat. Du hast einen Vater, der für dich da ist, und eine Mama, die nur manchmal peinlich ist und meistens eigentlich ganz süß. Das ist doch eine Menge.«
Ich habe nur zehrende Fragen, Angst und Bitterkeit.
Das sage ich nicht.
Selbst ihr Rücken sieht traurig aus, als sie rausgeht. Ich bleibe mit meinen Käsebroten zurück. Wenn ich jetzt hochginge und erzählte, dass es ja nicht nur unsere gespaltene Familie ist, die mich wegspült, sie würden mir nicht glauben. Wenn ich jetzt von dem großen Unheimlichen erzähle, würden sie glauben, ich lüge. Dabei hängt es zusammen. Der große Unheimliche hat mich auf diesen Weg gebracht, zu dieser Wahrheit geführt.
Wollte er mich jetzt genau hier haben?
Will er, dass ich meine Familie verlasse?
Wollte er auch, dass ich die Schule meide?
Und wenn ja: Was erhofft er sich als nächsten Schritt? Wie soll ich ahnen, was er will, wenn ich nicht mal weiß,
was ich selber will? Und wenn ich das tue, was er sich erhofft, ist das ein Schritt in die richtige Richtung oder in die falsche? Wird es dann aufhören oder wird es noch schlimmer?
Auf der Treppe nach oben habe ich die Idee.
»Tante Ines«, sage ich, als ich ins Esszimmer komme.
Ich weiß nicht, über was da am Tisch gerade so heftig gestritten wurde, aber alle verstummen, als ich reinkomme. »Ich könnte zu Tante Ines gehen«, schlage ich noch mal vor.
Tante Ines ist nicht meine Tante, aber da ich sie früher so genannt habe, bleibe ich dabei. Sie ist eine Jugendfreundin meiner Mutter und wäre eigentlich auch meine Patentante, wenn sie damals in der Kirche gewesen wäre. Sie hat mir schon ein paar Mal einen leidenschaftlichen Vortrag über die Institution Kirche gehalten. Viel verstanden habe ich nicht. Nur so viel: Sie ist dagegen. Überhaupt ist Tante Ines gegen ziemlich viel. Tiertransporte, Atomreaktoren, Hunger, Krieg. Die ganze Palette. Ich habe mal Fotos von ihr und meiner Mutter gesehen. Zum Schreien. Die beiden stehen in sackähnlichen Strickpullis und Handschellen an den Gelenken auf irgendeiner
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