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Angstspiel

Titel: Angstspiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C. Bertelsmann
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Straße. Ich weiß gar nicht mehr, für oder gegen was sie damals demonstriert haben. Allein die Frisuren sind der Hammer. Irgendwann hat sich Tante Ines dagegen entschieden, gegen alles zu sein, und ist für ein Jahr nach Griechenland gegangen. Da hat sie Silberschmuck am Strand verkauft und sich die geilste Bräune geholt, die eine rothaarige Frau überhaupt kriegen kann. Sie war auch mal beim Zirkus. Seit ein paar Jahren ist sie sesshaft geworden, ungefähr fünfzig Kilometer von uns entfernt. Sie macht irgendwas mit obdachlosen Frauen.
    Meine Mutter und sie sind Zwillinge im Geiste. Allein
für die Telefonate zwischen denen lohnt sich eine Flatrate.
    »Ines?«, wiederholt meine Mutter langsam.
    »Ja. Ich würde gerne für ein paar Tage zu Tante Ines. Ich brauche einfach mal ein bisschen Abstand.«
    »Ich fürchte, zwischen uns ist schon zu viel Abstand«, sagt Lutz. Der Mann meiner Mutter.
    Ich kann ihn nicht angucken.
    »Vielleicht ist das keine schlechte Idee«, lenkt meine Mutter ein.
    Spätestens jetzt wissen alle, dass mein Vater mit seinen Argumenten keine Chance hat.
     
    Ich packe noch am Abend, ich möchte morgen so früh wie möglich los.
    Raus, raus, raus hier. Alles hinter mir lassen.
    Am geilsten finde ich, dass Tante Ines keinen Computer, also auch kein Internet, hat. Da muss ich mich gar nicht anstrengen, um nicht in mein E-Mail-Postfach zu gucken. Es hat mich echt viel Kraft in den letzten Wochen gekostet, das zu meiden. Ich wollte gar nicht wissen, was da an Gemeinheiten wieder schlummerte. Natürlich fingen meine Eltern auch mit der Schule an. Ich hätte jetzt viel zu lange zu Hause gesessen. Krank sei ich ja nicht mehr. Ich würde doch total viel verpassen. Ich habe ihnen klargemacht, dass ich nichts lernen kann, wenn so viele Fragen durch meinen Kopf geistern. Und dass ich lieber ganz bei mir als auf dem Abiball oder auf dem Sportfest sein will. Sie haben sich beruhigen lassen, dass ja ohnehin bald Ferien seien, da könnte ich ja alles nachholen. Warum sollte ich ihnen sagen, dass ich da überhaupt nicht mehr hinwill? Das merken sie früh genug.
    Kurz vorm Einschlafen schicke ich Julchen noch eine SMS. Ich habe das Gefühl, dass ich ihr das irgendwie doch
schuldig bin. Außerdem möchte ich mich gerne zumindest von einer Person verabschieden.
    Bin ein paar Tage bei einer Freundin meiner Ma in der Nähe von Düsseldorf. Melde mich. L.
    Sie reagiert sofort.
    Düsseldorf? Da kann man doch ganz gut shoppen. Wo wohnst du genau? Vielleicht kann ich mal mit der Bahn kommen, und wir stürmen die City.
    Ich weiß gar nicht, ob ich das will. Aber wenn ich jetzt nicht antworte, ist das der totale Bruch. Ich schreibe ihr die Adresse. Ich kann ja immer noch sagen, dass ich keine Zeit habe, wenn sie vorbeikommen will.
     
    Der Abschied von Luise ist gruselig. Sie sieht mich an wie Ali, wenn er mal wieder von Philipp geärgert wurde. Ali war so lieb, und Philipp war echt oft gemein zu ihm. Ich weiß nicht, was ich lieber will: Luise in den Arm nehmen oder mich wortlos umdrehen und gehen. Wir verharren ein paar Minuten Hand in Hand, während meine Mutter Sachen zusammensucht.
    Luise ist mir so vertraut, das Puzzlestück, das zu mir passte.
    Luise hat es früher gehasst zu puzzeln. Sie hat es nicht eingesehen, ewig lange ein Bild zusammenzubauen, das direkt nach Fertigstellung dann wieder zerstört wird. Und weil sie keine Geduld dafür hatte, hat sie die Teile oft passend gemacht. Mittels festen Schlages mit der Faust.
    Sind wir auch solche Stücke? Zwei, die gar nicht zusammengehören?
    Als meine Mutter endlich kommt, lasse ich einfach los. Für alles andere fehlt mir der Mut.
     
    Wann habe ich mich das letzte Mal so frei gefühlt?
    Ich weiß es gar nicht.

    Ich liege auf dem Gästebett und träume aus dem Fenster.
    Tante Ines und Mama sitzen in der Küche, quatschen. Ich liege auf meinem neuen Bett und fühle mich so gelöst wie seit Ewigkeiten nicht mehr. Als hätte ich einen Rucksack mit Betonbrocken endlich absetzen dürfen. Frei wie der »eiserne Heinrich«, dem die Ketten, die um sein Herz lagen, abspringen. Alles um mich herum ist fremd, und das ist so schön. Nichts, was mit Scheißerinnerungen verseucht ist. Keine Angst, die aus den Ecken auf mich zugekrochen kommt. Keine bösen Überraschungen am Fenster oder im Briefkasten. Ich bin ein weißes Blatt Papier.
    Als meine Mutter reinkommt, um sich zu verabschieden, kann es mir nicht schnell genug gehen. Kann sie für mich nicht schnell genug

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