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Angstspiel

Titel: Angstspiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C. Bertelsmann
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machen«, nicht rumsitzen und darüber reden. Ihre Devise ist eher »learning by doing«. Ich dagegen, ich würde am liebsten immer nur anderen zusehen. Nicht abgucken. Nur hingucken. Meine Eltern fanden es gut, dass ich nach der mittleren Reife aufs Gymnasium gewechselt bin. Luise hat eine Ausbildung angefangen. Sie macht so Webdesign-Zeugs.

    Ich habe wirklich versucht, mich auf das Ende der Sommerferien zu freuen. Ich wollte mich freuen. Ich wollte mich befreien. Ich würde irgendwohin gehen und wäre nur Linda. Punkt. Ohne »und«.
    Was ich damals ausblenden wollte: Ohne Luise neben, vor, hinter mir, ohne ihre Wortwolke um mich rum fühlte ich mich nackt. Luises Erzählungen hatten mich warm und sicher eingehüllt. Meine Schwester redet nicht nur ohne Punkt und Komma. Sie kommt gänzlich ohne Pausen aus. Ich glaube, sie kann gleichzeitig durch die Nase atmen und durch den Mund reden. Ihre Sätze sind immer im Fluss. Ein Wort ergibt wirklich das andere. Sie war mein privates Radio, das mich unterhielt. Das mich wirklich irgendwie hielt. Jetzt war da Stille. Und in diese Stille platzten meine Gedanken.
    Was, wenn in der neuen Stufe alle total ätzend zu mir wären?
    Was, wenn ich den Stoff nicht raffen würde und nach einem Schuljahr alles schmeißen müsste?
    Was, wenn sich alle über mich lustig machten, weil ich irgendwie anders war?
    Die Nacht vor dem ersten Schultag habe ich größtenteils auf dem Klo verbracht. Irgendwann war alles raus, aber mein Magen wollte sich irgendwie selber rauskotzen. An dem Tag dachte ich, dass ich weiß, wie sich Angst anfühlt.
    Das war ein Kindergeburtstag gegen die Angst, die mich jetzt manchmal wegreißt. Damals hatte ich so eine Panik, weil ich plötzlich so alleine war. Jetzt kriecht die Furcht in mir hoch, weil ich nie mehr alleine bin. Weil da immer irgendwo zwei Augen sind, die mich beobachten.
    Was mir erst einige Zeit nach meiner »Einschulung« auffiel, war, dass auch Luise völlig irritiert war von dem neuen »Ich«. Nach einem völlig ungenießbaren Abendessen,
das meine Mutter zusammengekocht hatte, wollte Luise mich in den Keller ziehen.
    »Komm, wir holen uns als Wiedergutmachung ein fettes Eis aus der Tiefkühltruhe«, hatte sie geflüstert. Ich hatte nur »Für mich nicht« gesagt. Ich hatte ihr nicht gesagt, dass ich mal wieder eine neue Diät angefangen hatte. Luise hatte meine Hand, an der sie mich mitziehen wollte, losgelassen, als hätte sie sich verbrannt. Dass ich ihr nicht folgte, war neu.
     
    Am 17. August, noch am selben Abend, um 20.40 Uhr habe ich dem Kaktus geantwortet.
    »Ich + Ich« an »Kaktus«: Ja, ich will. Weiß halt nur noch nicht genau, wer ich wohl bin. Habe mich in den ganzen Jahren nur flüchtig kennengelernt. Hier mal ein Smalltalk, da mal ein kurzes Gespräch, dann habe ich mich wieder aus den Augen verloren.
    »Kaktus« an »Ich + Ich«: Und wenn du dich nicht magst? Stell dir vor, du findest dich richtig ätzend, kannst dich nicht riechen, deine eigene Spucke schmeckt für dich eklig. Was dann?
    »Ich + Ich« an »Kaktus«: Dann muss ich meine Einstellung ändern. Mich selber werde ich nicht ändern können. Ich müsste jemanden finden, der mich so mag, wie ich bin, und der muss mir dann verraten, wie er das schafft.
     
    Wie oft habe ich diese ersten Gespräche seitdem gelesen. Die Ausdrucke sind schon ganz verknittert. Ich habe nach Hinweisen gesucht. Nach Andeutungen. Versteckten Fingerzeigen. Nichts.
    Von jenem Dienstag an haben Kaktus und ich täglich miteinander gesprochen. Das heißt: natürlich nicht gesprochen. Obwohl ich seine Worte nicht nur gelesen habe. Sie klangen in meinem Ohr. Ich habe mir seine Stimme von Anfang an so ein bisschen metallisch vorgestellt. Nicht tief. Oder »sonor«, wie es in kitschigen Umschreibungen
oft heißt. Ich war mir von Anfang an sicher, dass seine Stimme so leicht heiser klingt, mit wenig Ton nur. Wir waren beide zu den unmöglichsten Zeiten im Chat. Zwei oder drei Mal waren wir sogar ganz alleine da. Das war fast ein bisschen zu nah. Natürlich habe ich auch Julchen im Chat getroffen. Sie nannte sich »Lady Gaga«. Sie hatte mir den Chatroom empfohlen, weil man da fast alle aus der Stufe treffen konnte. Merlin war auch da, aber zum Glück kannte er mein Pseudonym nicht, sonst hätte er wahrscheinlich wieder geklettet. Er selbst schrieb unter »Merlin«. Sehr originell. Ich fand’s komisch, sich nachmittags mit den gleichen Leuten im Netz zu unterhalten, die man morgens erst gesprochen hat.

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