Angstspiel
Aber gut. So konnte ich mir meine neuen Mitschüler erst mal in Ruhe aus der Distanz betrachten. Und trotzdem war ich dabei. Ein bisschen wenigstens. In der Schule gehörte ich nicht dazu. Ich war dabei, aber ich stand außerhalb. Nicht wie sonst am Rand - wo ich in aller Ruhe zusehen konnte. Ich gehörte nicht zum Kreis. Ich sah nur Rücken. So schwer hatte ich es mir nicht vorgestellt.
Meine Mutter schiebt sich mit einem Blumenstrauß in der Hand leise in mein Zimmer.
»Hier, die lagen für dich vor der Tür. Bestimmt von Julchen. Sie ist echt süß.«
Zwischen den ekelhaft perfekt aussehenden Rosen klebt ein Umschlag. Mit Buntstift steht »Linda« außen drauf.
Der Zettel drinnen ist mit hartem Kuli beschrieben. Hastige Buchstaben, aber sehr fest ins Papier gedrückt.
Schade, dass du schon entlassen bist. Ich hätte dich gerne noch im Krankenhaus besucht.
Ich bin seit ein, zwei Stunden zu Hause. Und er weiß es schon.
Ich wundere mich nicht. Ich erschaudere nur. Bin wieder die Hauptfigur in meiner persönlichen Big-Brother-Show. Unsichtbare Augen sind auf mich gerichtet. Rund um die Uhr. Nur, dass ich hier keine Kohle gewinnen kann. Im besten Fall komme ich mit einem Trauma davon. Wenn überhaupt. Irritiert stelle ich fest, dass ich nicht heule. Nur zittere. Aber Tränen sind keine da. Ich stopfe die Blumen mit den Köpfen zuerst in den Mülleimer, setze mich aufs Bett und ziehe die Decke ganz fest um mich. Wenn ich jetzt hierbliebe, dem Laptop und dem Handy ihre Akkus wie ein Herz rausreißen würde, dann wäre ich doch sicher, oder? Dann könnte mir keine Drohung was anhaben. Dann hätte ich hier mein eigenes kleines Gefängnis. Wie lang müsste die »Haftstrafe« sein, damit er mich vergisst? Wann könnte ich das erste Mal wieder auf Bewährung raus? Mich wieder ans Licht wagen? Ich weiß, dass meine Gedanken gerade ein bisschen Amok laufen. Aber das kenne ich schon. Das Perverse ist, dass der Kaktus weiß, dass ich Blumen verabscheue. Jede Art von Blumen. Ich habe ihn damals natürlich gefragt, warum er sich »Kaktus« nennt. Weil ihm keiner zu nahe kommen wolle. Das war seine Antwort. Jetzt weiß ich, dass er auch das Pseudonym gewählt hat, weil ein Kaktus verletzen kann. Tausend kleine Nadelstiche. Erst pikst es nur ein bisschen. Dann bohren sich die Stachel tiefer ins Fleisch. Ich fühle die Stiche. Er trifft mich an den dünnsten Stellen. Ich hatte ihm damals - blöd wie ich war - geschrieben, dass ich Kakteen mag. Sie wirken auf mich stolz, so unnahbar und doch schön. Alle anderen Blumen lehne ich ab. Nicht in der Natur natürlich. Aber ich finde es absolut krank, sich Blumen in eine Vase zu stellen. Man kappt deren Lebensader, stellt sie ins Wasser und schaut ihnen beim Sterben zu. Bewundert das letzte Aufzucken, wenn die Blüten sich öffnen, und verfolgt dann den Todeskampf,
wenn Blatt für Blatt abfällt. Irgendwann hängen sie tot im stinkenden Wasser. Ganz ehrlich: Ich kenne kaum einen schlimmeren Geruch als abgestandenes Blumenwasser. Das riecht ganz penetrant nach Verwesung. Ich finde das pervers. Ein Kaktus lässt das nicht mit sich machen. Der braucht eigentlich auch keinen Menschen, der gnädig alle paar Tage Wasser in die staubige Erde kippt. Ein Kaktus genügt sich selbst. Und wenn er mal blüht, darf man staunen. Mehr nicht. Mir hatte der Nickname gefallen. Ein bisschen wollte ich auch so sein. So stolz. Vielleicht auch ein bisschen gefährlich. Niemand sollte Angst vor mir haben. Aber Respekt. Ich schnappe mir meinen Mülleimer, öffne das Fenster, das nicht kaputt ist, und kippe die Rosen nach draußen. Ich will sie noch nicht mal in meinem Zimmer haben. Vielleicht sieht er mich ja. Es wird ihn nicht beeindrucken, dass ich sein Geschenk aus dem Fenster werfe. Aber er soll sehen, dass ich mich noch wehre. Dass ich ihn nicht in meiner Nähe dulde.
Natürlich habe ich schon stundenlang gegrübelt, wer er ist. Wer sich hinter den sechs Buchstaben verbirgt. Wer sich hinter »Ich + Ich« versteckt, weiß nur Julchen. Mit ihr zusammen hatte ich überlegt, wie ich mich nennen könnte. Ehrlich gesagt, haben wir einen ganzen Abend lang darüber diskutiert. Ja, ich habe schon mal überlegt, ob Julchen hinter allem steckt. Auf eine der ersten Mails habe ich geantwortet: Julchen, lass es bleiben. Ich weiß längst, dass du es bist. Ich hatte so sehr gehofft, dass ein Smiley oder so zurückkommt. Dass das blöde Spiel vorbei ist. Ich kannte sie ja noch nicht so lang und vielleicht
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