Angstspiel
dass sie meine Freundin ist. Plötzlich zeigt dieser ungute vage Gedanke sein Gesicht. Plötzlich bekomme ich ihn zu fassen. Ich wickele mich in ein Handtuch, hinterlasse überall nasse Fußabdrücke. Zitternd durchblättere ich die Mappe mit den Mails. Die Zettel kleben an meinen feuchten Fingern. Endlich finde ich die Nachricht.
Julchen hat gerade Yoga, oder? Du siehst, dass sie erstens nicht der Absender ist und dass ich zweitens noch mehr weiß, als du nur ahnst.
Das hatte damals Kaktus geschrieben. Er hat sie also auch verarscht. Wahrscheinlich ist er total wütend geworden, als er ihr Bild gesehen hat. Mir wird übel, schaffe es kaum, mich anzuziehen. Während ich in meinem Müsli herumrühre, schicke ich die nächste Nachricht hinterher.
Melde dich!!
»Jetzt frag doch schon!« Meine Mutter steht vor mir, sie klingt ganz aufgeregt.
»Was soll ich fragen?«, murmele ich und stochere in meinem Müsli herum, als wollte ich die Rosinen alle einzeln erdolchen.
»Wie es war!«
Wie was war? Was war denn? Was will sie? Sie verschränkt die Arme vor der Brust, sieht mich ungeduldig an.
»Italien!«, flüstert sie schließlich.
Meine Güte. Sie tut so, als wäre sie ein halbes Jahr quer durch die Toskana getrampt. Wenn ich mich nicht täusche, war sie nicht mal vierundzwanzig Stunden weg. Außerdem interessiert mich ihr Scheiß-Rom-Trip jetzt definitiv nicht.
»Wie war Italien, Mama?«, übernimmt jetzt Luise, die gerade in die Küche kommt, und rettet mich damit.
»Bellissima! Einfach ein Traum. Wir müssen da unbedingt mal zusammen hin.«
»Wo wart ihr denn so?«
»Auf dem Petersplatz. Sehr beeindruckend.«
»Ich glaube, den kann man auf Bibel TV jeden Tag sehen. Ostern sogar völlig überfüllt.« Luise grinst.
Mamas Augen werden ganz schmal. »Meine Tochter guckt Bibel TV? Das ist ja höchst spannend«, antwortet sie beleidigt.
»Ja. Weil deine Tochter mal ein Referat über ›Die Religion in den Medien‹ halten musste. Da habe ich mir das reingezogen.«
Mit Blick auf mich hetzt Mama: »Wenn du mal ein Referat über Mütter schlecht gelaunter und wild pubertierender Teenager halten musst, kannst du mich befragen. Ich bin da Spezialistin.«
Schlecht gelaunt. Wild pubertierend. Wie glücklich wäre ich, wenn es das nur wäre. Wie gerne würde ich jetzt sagen, dass ich nicht pubertiere, sondern vor Angst fast sterbe.
Ich hämmere die volle Müslischüssel in die Spüle und verlasse wortlos die Küche. Während ich die Jacke anziehe, gucke ich noch mal aufs Handy. Warum meldet die sich nicht? Vielleicht hat sie die SMS ja noch nicht gesehen. Ich wähle ihre Nummer und lande bei der Mailbox. Was, wenn Julchen heute nicht zur Schule kommt? Kalter, klammer Schweiß dringt aus meinen Poren. Wenn ich heute Mittag da anrufe und mir ihre Ma sagt, dass Julchen seit gestern verschwunden ist? Könnte ich dann allen Ernstes sagen: Ja, dann klingeln sie doch mal bei Arne Becker in der Blumenstraße. Das ist ein Psychopath, der mich seit einiger Zeit verfolgt, und Julchen wollte mit ihm reden, damit er das sein lässt. Ich habe erst vor der Tür gewartet, aber dann musste ich nach Hause und habe mich ins Bett gelegt. Klingt super. Nach einer richtig guten Freundin.
So früh wie heute war ich noch nie an der Schule. Wenn Julchen nicht innerhalb der nächsten dreißig Minuten auftaucht, habe ich ein Problem. Noch ein Problem.
Sie kommt nach ewigen siebzehn Minuten. Ich falle ihr spontan um den Hals und verberge meine Erleichterungstränen in ihren Haaren.
»Was für eine stürmische Begrüßung! Habe ich es mir doch gedacht, dass du schon auf mich wartest. Habe mich extra beeilt heute Morgen.«
»Warum meldest du dich nicht? Ich habe dir schon mehrere SMS geschickt und deine Mailbox vollgequatscht!«
»Habe ich mir schon gedacht. Leider ist meine Mutter mit meinem Handy unterwegs.«
»Warum das?«
»Ich hatte mir doch gestern Abend ihre Lederjacke ausgeliehen. Heißes Teil, der rote Blazer. Leider ist meine Mutter damit heute Morgen ins Büro.«
Ich glaube, Julchen will noch was über den Blazer erzählen. Der ist mir allerdings kack-egal.
»Was war gestern Abend? Wer ist dieser Kaktus alias Ghostwriter?«
»Das war echt der Hammer.«
Sie wirft ihre Haare nach hinten, holt tief Luft.
»Julchen. Fass dich kurz. Wir haben noch zehn Minuten. Dann hast du Englisch, ich habe Musik.«
Sie verdreht die Augen. Sie wollte ihre Geschichte offenbar schön theatralisch vortragen.
»Kurz gesagt: Dein Kaktus
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