Angstspiel
kann es nicht sein. Der Typ sitzt im Rollstuhl, und das schon seit mehr als zehn Jahren. Er ist total nett, hat hammermäßige Oberarme, eine fette Brille und hat sich mit mir getroffen, weil ich nicht sein Typ bin.«
Sie grinst.
»Das raffe ich nicht.«
»Ich fand es auch unglaublich. Das sagt der mir so ins Gesicht. Unbelievable!«
Sie schüttelt immer noch erstaunt den Kopf.
»Julchen! Weiter.«
»Der liebe Arne Becker hat vor einiger Zeit im Internet ein Mädel kennengelernt, das er richtig gut fand. Stundenlang hat er mit ihr gechattet und so. Irgendwann hat er ein Bild von diesem Mädchen gesehen und sich verliebt. Und weil er sicher war, dass er mit seinem Rolli bei der Schnecke keine Chance hat, hat er sich nicht mehr bei seiner Angebeteten gemeldet. Die ganze Zeit hat er sich aber gefragt, wie sie wohl darauf reagiert hätte, wenn sie erfahren hätte, dass er nur obenrum richtig funktioniert. Also hat er sich wieder im Netz umgeguckt und sich einfach
mal mit irgendeinem halbwegs netten Mädchen verabredet. Er wollte es einfach mal ausprobieren, wie Mädels auf den Rolli reagieren. Er meinte, es sei leichter zu verschmerzen, von einer abgewiesen zu werden, in die er nicht verliebt sei.«
Es klingelt in ihre Erzählung.
»Und das zweite Mädel warst jetzt du!«, stelle ich kurz fest.
Sie hebt ihre Tasche hoch.
»Genau. Und das erste Mädchen warst du.«
Mit dem Satz dreht sie sich um und geht.
Ich komme fünf Minuten zu spät zu Musik. Das musste ich erst mal sacken lassen. Ich hatte Mühe, meine Gedanken zu sortieren. Während der Fiedler vorne große Opern über Operetten erzählt, hämmert es in mir.
Arne Becker hatte sich in mich verliebt.
Ich hatte mich nicht getäuscht. Da war was zwischen uns. Etwas Besonderes. Geheim und geheimnisvoll. Ich versuche mir einen Typen vorzustellen mit sehr muskulösen Armen und sehr schlechten Augen, wie er vor seinem Computer sitzt und mit mir redet. Wie alt ist er eigentlich? Hat Julchen gar nichts zu gesagt. Er wäre nett, hat sie behauptet. Ich frage mich gerade, ob ich ihn mal kennenlernen möchte, als der andere Gedanke wie ein Beil dazwischenhaut.
Dann verfolgt mich also jemand anderes.
Jemand ganz anderes.
Irgendwo da draußen rennt jemand herum, der mich quälen will, und ich habe keinen blassen Schimmer, wer es sein könnte.
Meine Gedanken fahren Karussell. Kurz blitzen Ideen auf. Ich sehe mich beim DVD-Abend neben Merlin sitzen. War Merlin in letzter Zeit nicht ziemlich komisch? Der Ex-Lover
von Luise steht plötzlich vor meinem inneren Auge. Paul war irgendwie fies. Und dass ich ihn nicht leiden konnte, das hat er gewusst. Hat ihn das herausgefordert?
In der ersten großen Pause hat Julchen kaum Zeit. Sie muss noch Deutsch abschreiben. Ich beobachte Merlin aus einiger Entfernung. Er quatscht mit ein paar Typen von der Schülerzeitung. Mit denen hängt er jetzt häufiger ab. Als es klingelt und sich die Gruppe in Bewegung setzt, gehe ich spontan auf ihn zu. »Hey.«
Er lächelt mich an, berührt kurz meinen Arm. »Hey, Linda.«
»Merlin, wenn du einen Hund vergiften wolltest, was würdest du ihm geben?«
Er bleibt so abrupt stehen, dass ihm ein Junge hinten reinläuft.
»Wie bitte?« Er guckt mich völlig ungläubig an.
»Was würdest du einem Hund geben, wenn du ihn vergiften wolltest?«
Ich muss gestehen, die Frage klingt strange, aber ich wollte einfach mal sehen, wie er reagiert. War wahrscheinlich eine Scheißidee, aber hätte ja sein können, dass er rot wird. Oder anfängt zu stottern. Oder gar sagt: »Woher weißt du das?«
»Wieso sollte ich einen Hund vergiften?« Merlin ist verständnislose Ungläubigkeit. Er steht immer noch auf dem Schulhof und starrt mich völlig irritiert an. Sieht er ertappt aus? Ich weiß es einfach nicht.
»Macht ihr das gerade in Bio, oder was? Toxikologie bei Tieren, oder wie?«
Jetzt fange ich an zu stottern. »N-n-nein, eigentlich nicht.«
Er beugt sich zu mir. »Linda, du willst nicht etwa einem Hund Gift geben, oder? Das machst du nicht, oder?«
»Vergiss es.«
Was für eine völlig hirnverbrannte Idee von mir. Wenn Merlin sich jetzt demnächst noch komischer mir gegenüber verhält, muss ich mich echt nicht wundern.
Nach Schulschluss düse ich sofort zu Julchen nach Hause, damit sie mir die ganze Geschichte ausführlich erzählt. Sie hatte schon eher aus und lümmelt gerade über ihren Hausaufgaben, begeistert über die willkommene Unterbrechung. Sie legt gleich los. Wie irritiert
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