AnidA - Trilogie (komplett)
hin und musterte sie unverhohlen, während sie sich niederließ und ihre Hände in die weiten Ärmel ihres Gewandes schob.
»Ich habe eine schöne Neuigkeit für dich«, sagte die Oberste Hexe. »Die Tochter der Grennach-Ältesten wird bald hier eintreffen und wünscht natürlich, dich zu sehen.«
Anna lächelte. »Das ist allerdings eine schöne Nachricht«, sagte sie. »Ich habe Mellis schon so lange nicht mehr gesehen.«
»Du hast gern bei den Grennach gelebt?«, fragte der Hochmeister.
»Aber ja«, sagte Anna lebhaft. »Ich musste mich ein wenig an die Höhe gewöhnen, aber es war wirklich schön dort. Es ist herrlich, in einem so großen Baum zu leben! Und die Grennach waren alle sehr nett zu mir, vor allem Mellis.«
»Du fühlst dich hier im Ordenshaus nicht so wohl?«, forschte Rafiel weiter. Er beugte sich ein wenig vor und legte sein Kinn in die Fäuste.
Anna senkte den Kopf. »Ich bin nicht unglücklich«, erwiderte sie leise. »Es ist sicherlich das Beste so, auch wenn ich manchmal einfach nur gern nach Hause gehen würde. Aber das geht nicht, wie Ihr ja wisst.«
Der Ritter brummelte leise und tätschelte Annas Hand. Herrad sah ihn erstaunt an. »Man hat mir berichtet, dass du dich gestern wieder unwohl gefühlt hast«, meinte die Oberste Hexe.
Anna nickte und hob die Schultern. »Morgens war alles wie immer, aber gegen Nachmittag ist mir dann Kraft zugeflossen, und ich habe mich so stark gefühlt, dass ich in die Unterstadt gegangen bin, zum Altmarkt.« Sie warf einen schnellen Seitenblick auf die Oberste Hexe – es war den Novizen bis zur vierten Stufe nicht erlaubt, das Ordenshaus ohne Begleitung zu verlassen, und sie erwartete, dass Herrad sie fragte, mit wem sie diesen Ausflug unternommen hatte. Aber die Hexe drehte nur unruhig an einem Silberring mit Mondstein, den sie an ihrer linken Hand trug. Also fuhr Anna fort. »Aber zur Dämmerung hat diese Kraft von einem Augenblick auf den nächsten nachgelassen, und der Rückweg ist mir danach sehr sauer geworden.«
Hochmeister Rafiel zog die Brauen empor und sah die Oberste Hexe an. »Das ist schon öfter vorgekommen?«, fragte er.
Herrad nickte. »Regelmäßig mehrmals im Monat«, erwiderte sie. Sie wandte sich der jungen Frau zu. »Wann begann gestern deine Zeit der Kraft? Um das sechste Läuten herum?«
»Es war eine ganze Weile, nachdem der Hochmeister mit seiner Eskorte hier eingetroffen ist«, erwiderte Anna nach einem kurzen Zögern. »Ja, das muss etwa um diese Zeit gewesen sein.«
Herrad nickte und blickte den Hochmeister bedeutungsvoll an.
»Danke, mein Kind«, sagte sie dann. »Geh und ruh dich noch ein wenig aus. Meister Wilber und ich wollen heute Abend wieder mit dir arbeiten.«
Anna unterdrückte ein Seufzen und erhob sich. »Ich komme dann um die gewohnte Zeit«, sagte sie mit ergebener Miene. »Hochmeister, es war mir eine Ehre, Euch kennen zu lernen.«
Als sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, lehnte sich Herrad zurück und faltete die Hände unter dem Kinn. »Der Zusammenhang ist offensichtlich, nicht wahr?«, sagte sie.
Rafiels Miene spiegelte äußerstes Unbehagen wider. »Das war Euch nicht neu«, sagte er mit leisem Vorwurf. »Was hat es Eurer Meinung nach zu bedeuten?«
Herrad stand auf und schob die Schriftstücke, die den Tisch bedeckten, nachlässig zusammen. »Heute Abend werden wir erneut versuchen, Anna von der Bindung an die Herzen zu befreien«, sagte sie geistesabwesend. »Ich hege allerdings keine große Hoffnung mehr, dass uns das in absehbarer Zeit gelingen wird.«
Sie sah dem Hochmeister geradewegs in die Augen. »Die Herzen gewinnen an Kraft – und in gleicher Weise nimmt Annas Kraft ab. Das, was wir auf der magischen Ebene beobachten, spiegelt sich konzentriert in ihr und ihrem körperlichen Zustand wider.«
Rafiel fluchte unterdrückt und entschuldigte sich dann mit einer Handbewegung bei der Hexe. »Das Kind ist tapfer«, sagte er unvermittelt. »Sie hat Angst, das habe ich gespürt – aber sie lässt sich davon nicht beherrschen.«
Herrad lächelte ein wenig überrascht. »Was ist das ... mitfühlende Worte für ein störendes menschliches Anhängsel?«
Rafiel knurrte verlegen. »Ihr habt mir noch nichts erklärt, was dieses Phänomen betrifft«, lenkte er ab. »Wenn die magischen Kleinodien ihr die Kraft rauben – warum fühlt sie in dem Augenblick Stärke, in dem der Bann um die Herzen abgeschwächt und aufgehoben wird?«
Herrad zog die Brauen zusammen. »Das begreifen wir auch
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