AnidA - Trilogie (komplett)
Gastfreundschaft meines Volkes keine Ehre. Ihr habt eine lange und anstrengende Reise hinter euch, seid müde und ganz sicher auch hungrig – ich lasse euch eine Erfrischung bringen und ein Ruhenest zuweisen. Wir können auch heute Abend noch miteinander reden.«
Sie stand auf und ging hinaus. Anna sah besorgt zu Jinqx, aber die hockte gelassen da und schien sich über nichts zu beunruhigen. »Ich dachte, wenn Mellis Euch sieht, ist alles in Ordnung«, flüsterte Anna.
Jinqx zuckte gleichmütig mit den Schultern. »Mellis ist misstrauisch. Ich verdenke es ihr nicht. Das Volk der Grennach hatte immer eine enge Verbindung zu den Hüterinnen der Herzen. Aber das bin ich nun schon lange nicht mehr, und deshalb ist Mellis unsicher, ob ich wirklich die bin, für die ihre Augen und auch ihr Verstand mich halten.« Sie lächelte grimmig.
Korben hatte sich an die Wand des Nestes gelehnt und die Augen geschlossen. Er atmete tief und ruhig, aber sein mageres Gesicht war noch bleicher als gewöhnlich, und die Nase stach scharf daraus hervor. Jinqx bemerkte Annas besorgten Blick und schüttelte sacht den Kopf. »Er muss sich erholen. Das ist hier der richtige Ort dafür – ich werde dafür sorgen, dass die Heilerinnen der Grennach sich um ihn kümmern, damit er wieder auf die Beine kommt. Der lange Flug muss ihn den Rest seiner Kraft gekostet haben.«
Eine weißhaarige Grennach, die gerade den Kopf durch den Eingang steckte, hatte wohl ihre letzten Sätze gehört. Sie drehte sich noch im Eingang um und gab ein paar schnelle Anweisungen. Dann kam sie herein und hockte sich wortlos vor Jinqx nieder. Die Krähe sah sie mit untypischer Rührung in ihrem herben Gesicht an.
Anna sagte nichts, aber sie hatte die Älteste der Grennach gleich erkannt, obwohl sie sie während ihres Aufenthalts im Großen Nest nur ein paar Male zu Gesicht bekommen hatte. Anna wusste, dass Grennach alt wurden, älter wohl als jedes andere Lebewesen auf der Welt, abgesehen von den Bäumen. Mellis war damals mit ihrer Großmutter gereist, und sie sah noch immer aus wie eine junge Frau. Aber diese Grennach hier schien so alt zu sein wie die Welt – und Anna fragte sich ein wenig beklommen, ob das möglicherweise sogar stimmen konnte.
»Tallis«, sagte Jinqx nach einer langen Weile, in der die beiden sich nur angesehen hatten. Die weißhaarige, zerfurchte Grennach hob eine Hand und berührte sanft den Arm der Krähe. Wieder saßen sie einige Atemzüge lang still da, dann hob die Grennach-Älteste den Kopf und nickte. »Sei mir willkommen, Sturmkrähe«, sagte sie leise.
Mellis, die hinter ihnen im Eingang des Nestes gekniet hatte – denn der kleine Raum fasste keine weitere Person –, atmete scharf ein. »Mutter!«, sagte sie halblaut und ein wenig vorwurfsvoll.
Die alte Grennach wandte würdevoll den Kopf. »Sei still, Nesttochter«, mahnte sie. »Du solltest manchmal ein wenig mehr deinem Gefühl vertrauen. Dies hier ist Jinqx. Es besteht nicht der geringste Zweifel.«
Mellis nahm die Zurechtweisung hin und seufzte nur leise. Sie sah Jinqx an und sagte: »Ich habe die Ruhenester und eine kleine Mahlzeit für euch bereiten lassen. Wollt ihr euch nun erst einmal zurückziehen?«
Jinqx wechselte einen Blick mit der Grennach-Ältesten. »Ich möchte noch ein wenig mit Tallis reden, aber Anna und Korben sollten sich ausruhen«, sagte sie. »Geleite die beiden zu ihren Nestern.«
Anna wollte einen Einwand erheben, aber die Erschöpfung von der Reise und der Aufregung der letzten Tage steckte tief in ihren Knochen und füllte sie wie mit Blei. Die Aussicht auf ein weich gepolstertes Schlafnest, in dem sie ihre müden Glieder ausstrecken konnte, ließ ihre Augenlider noch schwerer werden. Mit einem unterdrückten Gähnen kam sie auf die Füße und folgte mit dem halb schlafenden Korben der hellhaarigen Grennach ins Freie.
Anna glaubte kaum die Augen zugetan zu haben, als auch schon wieder eine Hand sie sanft, aber unnachgiebig aus dem Schlummer rüttelte. Sie blinzelte in das dämmrige Licht des kleinen Nestes, das nur von dem matten Schein des Glühsteins neben ihrer Schlafmulde erhellt wurde. Es musste spät am Abend sein, denn nicht der kleinste Rest Tageslicht drang durch die geflochtenen Wände.
»Die Älteste will dich sehen«, sagte die Grennach, die sie geweckt hatte. »Es tut mir wirklich Leid, dass ich dich aus dem Schlaf holen muss.«
»Schon in Ordnung«, murmelte Anna und stieg in ihre Kleider. Sie benetzte ihre Hände mit dem Wasser
Weitere Kostenlose Bücher