AnidA - Trilogie (komplett)
sie. »Die Älteste will dich sehen.«
Wie in der gestrigen Nacht saßen sie in dem kleinen Versammlungsnest zusammen. Tallis und Jinqx beugten sich über einen Rufstein, den beide gemeinsam zwischen sich in den Händen hielten. Mellis legte den Finger auf die Lippen und bedeutete Anna, sich still hinzusetzen. Anna sah neugierig zu, wie die beiden Frauen den Stein auf eine Weise handhabten, die sie nie zuvor gesehen hatte. Fragend blickte sie zu Mellis, aber die schüttelte nur mahnend den Kopf. Der Tlen-na'Tian lehnte an der Wand des Nestes, die Augen halb geschlossen, und schien zu dösen.
Nach einer ganzen Weile stieß Tallis ein leises Stöhnen aus und setzte sich auf. Sie löste die Verbindung zu dem Stein und ließ ihn in Jinqx' raue Handfläche gleiten. Die Krähe nickte und steckte ihn in die Tasche. Dann drehte sie den Kopf und begrüßte Anna.
»Was habt Ihr da gemacht?«, fragte Anna neugierig. Die Krähe blinzelte ihr zu.
»Rufsteine sind ein gutes Instrument, wenn man nach etwas sucht. Wir haben die Herzen nicht lokalisieren können – und das ist gut.«
»Warum?«, fragte Anna verdutzt.
»Weil die Hexenorden sie dann auch nicht finden werden. Wir haben also alle Zeit der Welt, um uns um deine Aufgabe zu kümmern.«
Anna seufzte. »Ich habe nichts geträumt heute Nacht.«
»Das solltest du auch nicht. Aber jetzt wäre ein guter Zeitpunkt dafür – komm her.«
Die Krähe deutete auf den leeren Platz in der Mitte des Nestes. Anna hockte sich dorthin und zog unbehaglich die Schultern hoch, weil alle sie anblickten. »Was muss ich tun?«
»Schließ die Augen.« Eine Hand legte sich auf ihre Stirn, eine zweite, kleinere, berührte sacht ihr Kinn. Tallis, dachte Anna.
Ja, erklang die amüsierte Antwort in ihrem Kopf. Anna zuckte ein wenig zusammen, entspannte sich aber gleich wieder.
»Leite uns«, hörte sie Jinqx wispern. In ihrem Geist entstand das Bild einer sich drehenden Perle, die eine schwarze und eine weiße Seite besaß. Anna gehorchte und glitt hinab. Schichten ihres Bewusstseins zogen unbeachtet an ihr vorbei. Sie sank tiefer, um sie herum wurde es dunkler, aber in der Ferne lockte ein sanfter Glanz und zeigte ihr den Weg. Es ist anders als beim letzten Mal, dachte sie verwundert. Der Weg ist mir fremd. Er erscheint mir viel – weiter.
»Sei unbesorgt«, murmelte die Krähe. »Geh nur weiter.«
Anna glitt weiter, und alle Geräusche um sie herum verstummten. Sie wusste, wenn sie jetzt die Augen öffnete, würde sie nichts sehen außer der matten Dunkelheit, in der in weiter Ferne der milde Schein ihres Kraftzentrums glühte.
Der Weg erschien endlos, und die Helligkeit wurde nicht stärker, sondern schien immer gleich entfernt zu bleiben. Langsam wurde sie müde. Rechts und links von sich gewahrte sie schattenhafte Gestalten, die ihr nun die Hände reichten. Neue Kraft strömte von ihnen in sie hinein. Sie sprang, und mit einem einzigen, weiten Satz hatte sie die Entfernung überwunden und stand vor dem Zentrum ihrer Magie. Es hatte sich verändert. Die Perle schien sich rasend schnell zu drehen und schimmerte nun, weiß und schwarz zugleich, in einem augenverwirrenden Wirbel.
Anna stöhnte und spürte, wie Übelkeit sie überkam. Die Hände ihrer Begleiterinnen umfassten sie stärker, schirmten sie ab.
Tritt ein, wisperte eine von ihnen. Anna schrak zurück, aber die Hände hielten sie unbarmherzig fest.
Du kannst es, flüsterte die andere. Du bist stärker geworden, Anna. Du beherrschst deine Kräfte noch nicht zur Gänze, aber das wird schon bald der Fall sein. Jetzt. Tritt ein!
Mit einem Ruck befreite sich Anna von den Händen und tat den entscheidenden Schritt. Das mentale Heulen und sinnverwirrende Sausen der sich drehenden Perle riss schlagartig ab. Es war still. Anna drehte sich im Kreis, aber rund um sie war nichts als weiche Dunkelheit. Unschlüssig stand sie da, die Hände ausgebreitet, aber nichts war zu fühlen, zu sehen oder zu hören. Zögernd tat sie einen weiteren Schritt, der sie nirgendwohin führte. Noch einen, noch einen. Nichts schien sich zu bewegen oder zu verändern.
Wo bin ich? Wo seid ihr?
Hier.
Wo ist ›hier‹?
Keine Antwort. Anna atmete stoßweise, aber es gab keine Luft, die sie in ihre Lungen hätte saugen können. Keine Luft, kein Licht – das hier war ähnlich schrecklich wie das Nichts, das sie einmal – vor Jahrhunderten, wie es ihr schien – vor Jinqx' Fenster gesehen hatte. Damals hatte sie die Herzen berühren können ...
Als sie
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