AnidA - Trilogie (komplett)
auf die Straße. »Sie sind vor einer Stunde hier gewesen, und ich hoffe, sie kommen nicht wieder zurück.« Sie griff mit erstaunlich kräftigen Fingern zu und zog mich über die Schwelle. »Eddy, du bist ja klatschnass!« Sie schlug die kleinen Hände zusammen. »Zieh sofort deine Sachen aus, du holst dir doch den Tod!«
Tallis zerrte mich in ihre riesige Küche. Ich sah ihr amüsiert und ein wenig gerührt zu, wie sie leise schimpfend das Feuer in einem der anachronistischen Kamine entfachte, die anscheinend in jedem bewohnten Zimmer ihres Hauses installiert worden waren.
»Zieh dich aus!«, befahl sie wieder, noch eine Spur energischer. »Ich habe Kleider für dich«, setzte sie sanfter hinzu, als sie mein Zögern richtig deutete. »Komm, ich helfe dir.« Ihre zierlichen Finger mit den seltsam gebogenen, schmalen Nägeln nestelten den Verschluss meiner abgetragenen Hose auf. »Noch nicht einmal Schuhe hast du an den Füßen!« Ich sah auf ihre schwarze Haarmähne hinunter und überließ mich der ungewohnten Fürsorge.
»Deinen Pullover musst du dir schon selbst ausziehen, da reiche ich nicht ohne Leiter heran.« Sie trippelte über den schwarzweiß gekachelten Boden und verschwand im Nebenzimmer. Chloe flitzte durch die Küche und steckte ihre neugierige Nase in jede einzelne Ritze. Ich ließ mich auf die Holzbank neben dem Herd fallen und streckte die Beine aus. Die Küche erinnerte mich an die meiner Großmutter: Elaina war genauso altmodisch wie Tallis gewesen und hatte, solange sie lebte, darauf bestanden, alle unsere Mahlzeiten auf einem offenem Herdfeuer frisch und eigenhändig zuzubereiten. Bevor ich ins Heim kam, hatte ich nicht gewusst, wie Fertigmahlzeiten schmeckten. Es hatte die Kathromani-Nonnen einiges an Schweiß und Überredung gekostet, bis ich mich endlich damit abgefunden hatte.
Ich ließ meine Augen wandern und bewunderte das Geschick, mit dem die zwergenwüchsige Frau die Küche ihrer Behinderung angepasst hatte. Überall standen Schemel und Fußbänke, die es ihr erlaubten, problemlos an alle Schränke und Arbeitsflächen heranzukommen. Flüchtig fragte ich mich, warum sie nicht einfach Möbel in ihrer Größe gekauft hatte, denn Geld genug hatte sie ja, auch wenn sie rätselhafterweise darauf bestand, in den Clouds zu wohnen. Vielleicht verband sie irgendeine alte Erinnerung mit diesem Elendsviertel. Es war früher, bevor es so heruntergekommen war, sicher eine nette, wenn auch bescheidene Wohngegend gewesen. Ich wickelte mich in die weiche Decke, die sie mir hingelegt hatte, und lehnte mich an die warme Wand des Kamins. Meine Augenlider sanken herab, und ich spürte, wie Chloe zu mir unter die Decke schlüpfte.
Wie alt mochte Tallis sein? Ihr zerknittertes kleines Gesicht erschien vollkommen alterslos und war beinahe hübsch zu nennen, wenn man sich an seine Eigentümlichkeiten gewöhnt hatte. Die riesigen, langbewimperten Augen mit den seltsam geschlitzten Pupillen schienen manchmal einem jungen Mädchen zu gehören. Dann wieder waren sie von einer uralten Klugheit, die mich beinahe erschreckte. Das dichte, dicke Haar, das ihr weit über den Rücken fiel, glänzte pechschwarz und zeigte nicht eine einzige weiße Strähne. Ihr winziger Körper, der beinahe einem Kind hätte gehören können, verbarg sich unter weiten, bodenlangen Kleidern. Ich hatte niemals ihre Beine zu Gesicht bekommen, aber sie schienen im Gegensatz zu ihren Armen und ihrem Oberkörper viel zu kurz zu sein, was Tallis aber allem Anschein nach überhaupt nicht behinderte. Sie bewegte sich im Gegenteil mit einer Flinkheit und Gewandtheit eines munteren Äffchens.
»Da sind deine Kleider«, sagte sie fröhlich. Ich schrak auf. Ich musste wohl ein wenig eingenickt sein, denn ich hatte sie nicht hereinkommen hören. Ihre riesigen Augen blinzelten zu mir auf, und ich musste unwillkürlich lächeln.
»Danke, Tallis.« Ich nahm das Kleiderbündel aus ihren Händen entgegen.
Sie nickte und wandte sich dem Herd zu. »Was hältst du von einer schönen heißen Tasse Kaffee?« Sie nahm, ohne meine Antwort abzuwarten, den verbeulten Kupferkessel von seinem Haken. »Danach mache ich dir eine Suppe. Suppe ist immer gut, wenn man nass und durchgefroren ist.« Sie summte zufrieden vor sich hin, während sie den Kessel aus der Wasserleitung füllte. Ich schlüpfte verwundert in die Sachen, die sie mir gebracht hatte.
»Wieso hast du Kleider in meiner Größe im Schrank?« Ich bewegte wohlig meine Zehen in den dicken Strümpfen.
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