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Animal Tropical

Animal Tropical

Titel: Animal Tropical Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pedro Juan Gutiérrez
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sechzig jedes Jahr.«
    »Verdammt! Einer pro Woche. Wird diese Brücke im Guinness-Buch erwähnt?«
    »Weiß ich nicht.«
    »Was passiert? Ertrinken sie?«
    »Sie zerschmettern auf dem Wasser. Weiß nicht. Sie sterben.«
    Wir schweigen ein Weilchen still. Die Autos überholen uns an der Seite. Agneta fährt den Wagen mit sechzig Stundenkilometern. Nicht mehr. Auch zwei Motorräder überholen uns. Brutal brausen sie vorbei, schlenkern auf ihren großen Reifen von einer Seite zur anderen, verschwinden hundert Meter vor uns im grauen Vorhang des Nieselregens. Sie müssen mehr als zweihundert Stundenkilometer draufhaben. Agneta sagt zu mir:
    »Falls wir einen Unfall haben und ich sterbe, vergiss nicht, dass du eine Krankenversicherung hast.«
    »Ach, red keinen Stuss.«
    Schüchtern lächelt sie, peinlich berührt, über solche Dinge reden zu müssen.
    »Die Papiere sind im Schrank neben dem Fernseher. Im oberen Teil. Da sind noch andere Papiere, aber deine sind auf Englisch. Auf deinen Namen. Alles ganz deutlich.«
    »Thank you very much, honey.«
    Jetzt lasse ich mich anstecken. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Sehe aus dem Fenster. Mir fällt nichts ein. Ich strecke den Arm aus. Stoppe Lou Reed. Sehe einige Kassetten durch, die ich mitgebracht habe. Pablito F. G. Van Van, NG. Nehme eine von Omara Portuondo. Die Stimmung heizt sich auf: Soy cubana, Son de la Loma, Siboney, Me acostrumbré a esíar sin ti. Sie rufen Erinnerungen in mir wach. Viel zu viele. Die Kassette endet mit Yo sí como candela:
     
    Spiel nicht mit mir,
    denn an mir verbrennt man sich die Finger.
    Ich sang im Paradies,
    und sie errichteten mir einen Altar,
    und ich traue mich zu singen
    für genau den Gott, genau gesagt.
    Ich mache Zehnzeiler und improvisiere
    für den, der nichts weiß, und für den Weisen,
    für mich gibt’s keine ernste Lage,
    ich knöpf mir jede vor,
    und wenn sie mich wild macht,
    schließe ich ab und nehme den Schlüssel mit.
    Denn an mir verbrennt man sich die Finger!
     
    Sehr dichte Wälder. Schweres, dunkles Grün. Gegen zehn Uhr morgens kommen wir an einen einsamen, steinigen Kiesstrand. Die Ostsee. Immer grau, schmutzig, kalt, mit wenig Salz und Möwen und einzelnen stillen Fischern. Oder niemandem. Ein einsames Meer voller halb gefrorener Lachse und Heringe, bereit, eingelegt zu werden.
    Ein kaltes Lüftchen weht aus Nordosten. Der Nieselregen hat nachgelassen, aber es ist immer noch völlig bewölkt, feucht und kalt. Wir gehen und lauschen den sanften Wellen und dem Knirschen des Kieses unter unseren Schritten und dem Kreischen der umherwirbelnden Möwen. Wir legen einen Schritt zu. Es ist kalt. Ich sehe gern die Überbleibsel, die vom Meer ans Ufer gespült werden: abgerissene Taue und verrostete Stahlkabel, blank polierte Holzstücke, Plastikbehälter. Plötzlich sehe ich eine braune Lederjacke dahintreiben. Wir bleiben stehen, um ihr nachzusehen. Sie treibt vollständig geöffnet auf der Welle über den Kieselsteinen, bewegt sich rhythmisch im leichten Hin und Her des eine halbe Handbreit tiefen Wassers. Sie ist etwas ausgeblichen, hat aber keine Risse und sieht auch nicht verschlissen aus. Vielleicht treibt sie schon seit Wochen herum. Wir sprechen nicht. Ich glaube, wir denken beide dasselbe: Der Besitzer ist ins Wasser gefallen und ertrunken. Seine Leiche haben die Fische auf dem Meeresgrund gefressen, und die sanft auf dem Wasser schaukelnde Jacke trieb nach oben bis hierher ans Ufer. Das scheint ein bisschen makaber, aber wir dachten das im selben Moment. Man muss es nicht aussprechen, um zu wissen, dass der andere dasselbe denkt wie man selbst.
    Wir gingen ein Stück weiter und setzten uns auf ein paar große Steine ans Meer. Hinter unserem Rücken rauschte der Wind in den Pinien. Kein einziger Mensch ist in Sicht. Ich kann kilometerweit nach links sehen und noch einmal so weit nach rechts. Nichts. Nicht einmal ein Boot. Absolut nichts.
    Noch nie hörte ich gerne den Wind in den Pinien rauschen. Ich muss die Stille brechen. Über irgendetwas sprechen:
    »Am Telefon hast du mir von einem deiner Freunde erzählt, der sich umgebracht hat. Von der Brücke aus?«
    »Er war kein Freund von mir. Seine Frau ist meine Freundin.«
    »Seine Witwe.«
    »Witwe?«
    »Wenn der Ehemann stirbt, nennt man die Frau Witwe.«
    »Ach ja.«
    »Ist er von der Brücke gesprungen?«
    »Pardon?«
    Manchmal vergesse ich, dass ich die Worte klar und deutlich aussprechen muss. Wenn ich Kubanisch nuschele, hängt sie in der

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