Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Animus

Animus

Titel: Animus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Heib
Vom Netzwerk:
betont gelangweilt auf mich herab. »Das mit der U-Bahn war so nicht geplant. Wir mussten den neuen Flüssigsprengstoff austesten. Das Zeug ist phänomenal. Du pinselst was damit ein, es trocknet sofort, und sobald es mit Wasser in Berührung kommt – wumm! Ging früher los als gedacht. Hat ’n Hund drangepisst, das muss man sich mal vorstellen! Pech.« Conrad grinste.
    »Ein bisschen stärker? So nicht geplant? Ja, bist du denn …« Am meisten schockierte mich sein Grinsen.
    »Du hast dich verändert, mein Lieber«, schnitt Conrad mir das Wort ab.
    »Nein, du hast dich verändert!« Ich versuchte vergeblich, mich zu beruhigen. »Ich kenne dich verdammt lange. Damals an der Uni hatten wir die gleichen Ideen. Die ganze verlogene Scheiße zu entlarven. Wir waren die Guten! Gut und Böse! Lachhaft! Was ist aus uns geworden? Die Vernichtung hat sich zum Selbstzweck entwickelt. Ich glaube, du hast eine solche Wut, weil du begriffen hast, dass wir gescheitert sind. Am Desinteresse der Bevölkerung. Deswegen kratzt es dich nicht mehr, wenn du die Bevölkerung abschlachtest.«
    Conrad lachte höhnisch. »Das Gute, das Böse, Ideen und Ideologien! Du bist immer noch der verträumte Student, der versucht, Schiller und Bakunin in der rechten und linken Herzkammer zu vereinen. Du bist gescheitert, nicht ich! Was mir schon immer zuwider war, ist die Mittelmäßigkeit. Die erhebst du mit Volkes Stimme zum Dogma. Das Volk, pah! Diese hirnverklebte, träge, stumpfe Masse! Diese Dumpfheit, in der die Menschen dahinvegetieren … die kümmern sich nur um Fütterung und Teilung ihrer Zellen wie Pantoffeltierchen. Um die sorgst du dich? Da kratzen ein paar Hundert in der U-Bahn ab, und was passiert? Sie schreien nach mehr Staatsmacht, damit sie sich weiterhin in Ruhe fortpflanzen können!«
    »Der Beweis für unser Scheitern. Was bringt es, Unschuldige zu opfern? Was bringt der ganze Scheiß überhaupt?« Ich schüttelte resigniert den Kopf.
    »Such dir ’ne Tussi, und zäun’ dir ’n Stück Garten ein, du Memme! Die Frage ist nicht, ob man Unschuldige opfern darf! Es gibt keine Unschuld! Und was heißt dürfen? Alles ist erlaubt! Gott ist tot, zu Staub zerfallen. Moral wird als Unterdrückungsinstrument der Machthaber benutzt, und Ethik ist lediglich ein theoretisches Fach an der Uni. Verdammt, was willst du?«
    Conrads Augen sprühten Feuer. Er glaubte nicht mehr daran, mich überzeugen zu können. Er war einfach nur wütend, fühlte sich verraten, im Stich gelassen, und das von dem Einzigen, den er respektiert hatte. Die anderen unten im Wohnzimmer, die betrachtete er als Kakerlaken, dämliche Pyromanen. Handlanger, die er brauchte, um sein hochgestecktes Ziel zu erreichen.
    Ich blickte meinen Freund lange an und sah die ganze, unaufhaltsame Kraft des Wahnsinns offenliegen. Es fiel mir schwer, mich von Con loszusagen. Keiner hatte mich so beeinflusst wie dieser ehemals brillante Denker, keiner hatte mich so begeistert für etwas Größeres, etwas, das über die Existenz niederer Tiere hinauswies. Hätte das Ganze inzwischen nicht solche grausamen Konsequenzen gehabt, hätte ich vielleicht darüber lächeln können. Aber dazu war es zu spät, wir waren viel zu weit gegangen. Für mich war Schluss, endgültig. Dennoch versuchte ich ein letztes Mal, mich verständlich zu machen. Doch auf Conrads Segen für meinen Abgang zu hoffen war so naiv wie unser Glaube an die Veränderlichkeit der Dinge. Ich wollte es nur noch nicht wahrhaben.
    »Lass mich dir eine kleine Geschichte erzählen. Ich bin heute Morgen in New York angekommen. Ich fuhr nach Brooklyn, bin in eines dieser Senkrechtcafés, mit Stehtischen und Barhockern, wo der Kaffee nur ein paar Cent kostet. Ich stand da und frühstückte, als ein junger Typ einen Rollstuhl mit einer älteren Frau reinschiebt. Sie hatte keine Beine und war offensichtlich geistig stark zurückgeblieben. Er schob sie wortlos in die Mitte des Raumes, wo alle sie angaffen konnten. Da ließ er sie wortlos stehen und ging zur Theke. Ich betrachtete die Frau, während alle anderen sich bemühten, sie nicht zu sehen. Der junge Typ kommt also zurück mit zwei Tassen, redet wieder kein Wort mit der Behinderten und stellt sich an den Tisch direkt neben mir, trinkt seinen Kaffee und liest Zeitung. Ich beginne mich zu fragen, warum, und sogar darüber zu ärgern, dass er mit der Frau kein einziges Wort spricht. ›Ich hol was zu trinken‹, ›Bin gleich wieder da‹ oder so was. Nach einigen Minuten hört er

Weitere Kostenlose Bücher