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Animus

Animus

Titel: Animus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Heib
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Limonade gewesen, und dann, nach etwa einer Stunde, angefüllt mit spannenden Erzählungen über Vögel und andere Bewohner des Waldes, setzten wir uns hin, auf einen umgestürzten Baumstamm oder einfach auf die weich bemooste Erde, und Opa holte das Essen und die Limonade aus dem Rucksack. Ich rief mir genau ins Gedächtnis, fühlte geradezu, wie ich einmal beim Trinken Limonade auf mein Kleid kippte, und mein Schoß und meine Beine waren ganz klebrig von dem süßen Zeug, das im Rucksack warm geworden war. Opa lachte und schimpfte nicht, wie Mama das vielleicht getan hätte. Er gab mir sein großes Taschentuch, damit ich draufspuckte und mir über die Beine wischte. Doch dann war Großvater plötzlich weg, aber ich war noch im Wald, im gleichen Wald, nur war ich jetzt größer, schon viel größer, und meine Arme waren klebrig und mein Hals und mein Dekolleté. Aber es war keine Limonade, und niemand lachte.
    Ich riss die Augen auf. Ich lag auf meiner Pritsche in der Zelle in Seattle, wälzte mich zur Seite. Die Arme unter meinem Kopf waren nicht mehr durchblutet und kribbelten unangenehm. Ich schwitzte trotz der abgestandenen klammen Kühle im Raum. Immer wieder dieses Bild, wieso wurde ich dieses Bild nicht los? Ich hatte ihn nicht umbringen wollen. Aber dann war er über mich hergefallen, und ich ließ mich in einer Art katatonischer Starre von ihm in den weichen Waldboden drücken, und erst als er meinen Rock hochgeschoben, meinen Slip zerrissen hatte und auf mir lag und mich anfasste, da kam alles in mir wieder hoch: die Erinnerung an früher, an den Mann, der das Gleiche mit mir gemacht hatte, als ich mich noch nicht wehren konnte, weil ich nicht wusste, ob er das durfte – mich anfassen –, ob ich das durfte – mich wehren. Doch jetzt wusste ich es, jetzt konnte ich es, und meine rechte Hand fand einen Stein, und der Stein fand den Hinterkopf des Bürgermeistersohnes, und dann klebten meine Arme, mein Hals, mein Dekolleté von seinem Blut. Ich erinnerte mich sehr gut, dass ich eine Ewigkeit bewegungslos liegen blieb. Die Zeit stand still, die Sekunden geronnen, die Vögel verstummten, der Wind hielt inne. Nur sein Blut sprudelte und rieselte. Die Zeit hielt so lange den Atem an, bis ich ihn endlich, plötzlich angeekelt, von mir herunterstieß, den Stein fallen ließ und ganz langsam und konzentriert in meiner Tasche ein Tuch suchte, auf das ich draufspucken könnte, um mich sauber zu machen. Aber da war keines, und ich ließ die Tasche liegen und ging in gemächlichem Tempo zurück zur Stadt. Ich glaubte, mich erinnern zu können, dass ich leise ein Lied sang, aber in dem Punkt war ich mir hinterher nicht sicher. Dann, in der Stadt, waren alle auf mich eingestürzt, war alles über mir zusammengestürzt, und dann stand ich vor Gericht, und keiner glaubte mir. Ich bekam lebenslänglich. Weil ich mich gewehrt hatte, schon bevor mein Inneres verwüstet war. Ich, die Tochter einer unverheirateten Frau – so eine nämlich, kein Wunder! –, die auch noch mit einem fremden Mann zusammenlebte, der aus einer weit entfernten Stadt gekommen war und einen fast erwachsenen Sohn mit in die wilde Ehe gebracht hatte … Und der als Opfer bezeichnete Tote war der ehrbare Sohn des ehrbaren Bürgermeisters gewesen, und dessen Freundin hatte ausgesagt, ich, Evelyn, wäre scharf auf den Schwachkopf gewesen, und er hätte mich abgewiesen. Das reichte den Geschworenen als Motiv für den Mord. Obwohl sie ja gar kein Motiv brauchten, sie hatten ja den Stein, das Blut. Uund von Vergewaltigung keine Spur.
    Etwas über zwei Jahre war das her. Ich hatte gelernt in diesen Jahren. Über die Gesellschaft, ihre Hierarchien, ihre Lügen, den Unterschied zwischen Wirklichkeit und Wahrheit und über mich selbst. Ich hatte keinem etwas erzählt von den früheren Vergewaltigungen durch den Mann, der mein Onkel, der Bruder meiner Mutter, gewesen war. Ich liebte meine Mutter. Ich hatte es ihr nicht gesagt und auch nicht dem Lebensgefährten meiner Mutter, den ich Vater nannte, und auch vor Gericht nicht, obwohl das Kindheitstrauma mich vielleicht entlastet hätte. Aber ich hatte mich damals dagegen entschieden und war noch immer von der Richtigkeit dieser Entscheidung überzeugt. Mir hätte sowieso keiner geglaubt. Außer meiner Familie, und die hätte es zerrissen. Nur meinem Stiefbruder, dem habe ich es erzählt. Nach dem Urteil. Da war ich schwach geworden und hatte Angst gehabt vor dem Begrabenwerden in einer Zelle, also redete und

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