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Animus

Animus

Titel: Animus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Heib
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auf zu lesen, nimmt die zweite Tasse und gibt sie der Frau, die anfängt zu trinken. Er setzt sich auf einen der Hocker und gähnt in die Gegend. Die Frau trinkt schnell, es war Kakao. Und als er die leere Tasse wieder auf den Tisch stellt, sehe ich, dass die Frau die Hälfte der Flüssigkeit über sich gekippt hat. Der Kakao läuft ihr noch das Kinn, den Hals hinunter, in ihren Pulli rein. Ich denke mir, der Typ muss das doch auch sehen, es sah einfach unwürdig aus. Aber das hat den Typen überhaupt nicht gejuckt. Gesehen hat er es. Zwei Meter weiter war ein Serviettenspender. Der Typ gähnt weiter und lässt den Scheiß auf der Frau eintrocknen. Ich sitze da, werde sauer und überlege mir, was das für ein Arschloch ist und ob ich jetzt Servietten holen soll, um der Frau den Mund abzuwischen oder um sie vor dem Typen auf den Tisch zu knallen. Ich schaue ihn an, ich sitze direkt neben ihm. Ich weiß, er spürt meinen feindseligen Blick. Der Typ steht schließlich auf und schiebt mit der Frau ab. Ich fühlte mich absolut beschissen und hab mich gefragt, warum ich verdammt noch mal gezögert habe. Ich wollte vielleicht nicht auffallen, alle hätten mich dabei beobachtet. Ich weiß nicht. Aber ich frage dich jetzt, Conrad: Wer war das größere Arschloch? Der Typ, der diese entwürdigende Situation womöglich gar nicht als solche empfunden hat? Oder ich?«
    »Wir sind alle Arschlöcher«, meinte Conrad bitter. »Nur du denkst insgeheim, du wärest keines, weil du dir auf die Schulter klopfst, dass du überhaupt noch was empfindest.«
    Ich erhob mich aus dem Sessel. »Möglich. Ich werde jetzt einfach gehen. Vielleicht werde ich heiraten und mich fortpflanzen, wie du mir empfiehlst. Du müsstest doch am besten wissen, was gut für mich ist. Keiner kennt mich so genau wie du.« Ich versuchte ein Lächeln, doch die Ernsthaftigkeit der Situation ließ sich nicht überspielen. Ich streckte Conrad die Hand hin. »Lass mich gehen, ohne ein weiteres Wort. Und wenn sich bei dir etwas ändern sollte, lass es mich wissen.«
    Conrad nahm meine Hand, drückte sie kurz und wandte sich schroff ab. Er ging vor mir die Treppe hinunter, öffnete mir wortlos die Haustür und schloss sie wieder hinter mir. Ich ging zwei Schritte, blieb stehen und warf einen letzten Blick zurück. Durch das Wohnzimmerfenster konnte ich Conrad sehen. Er lehnte mit dem Rücken an der Wand und betrachtete seine Truppe. Seine Leute warteten auf eine Erklärung, die nicht kam. Da fragte der eine mit der kaputten Bierflasche: »Du lässt ihn gehen, Con? Spinnst du? Du bringst ihn hierher, und dann lässt du ihn gehen? Einfach so?«
    Conrad schaute einem nach dem anderen in die Augen. »Er geht. Und keiner rührt ihn an, habt ihr verstanden? Keiner!« Conrads Blick ließ keinerlei Missverständnisse zu. Er war gefährlich ruhig.
    Ich ging. Einfach so.

6. Nacht im Gefängnis
    Evelyn, 24, Gefängnisinsassin
    Wie immer wurden Punkt zehn Uhr abends die Zellenbeleuchtungen im Frauengefängnis von Seattle gelöscht. Ich legte mein Buch beiseite. Nicht, dass ich es als sonderlich spannend empfunden hätte. Ich las es nur, weil es eines der wenigen Bücher aus der Gefängnisbibliothek war, das ich noch nicht gelesen hatte. Ich war frustriert, als das Licht ausging. Frustriert und etwas ängstlich. Jetzt begann unweigerlich die Nacht, die 874. Nacht in der Zelle. Eine Nacht mehr, in der ich nur schlecht, wenn überhaupt einschlafen konnte, um dann wahrscheinlich wieder von Albträumen gequält zu werden. Ich zerrte die Decke aus der Matratze, streckte die Beine darunter und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Ich würde an etwas Positives denken und dann friedlich darüber einschlafen. Vielleicht an meinen knorrigen, liebevollen Großvater. An die vielen Spaziergänge, die ich mit ihm in meiner Kindheit gemacht hatte. Einmal pro Woche war er zu uns gekommen, hatte meinen kleinen Rucksack mit belegten Broten und Birnen oder Äpfeln gefüllt, mich an der Hand genommen und war mit mir durch die an Mamas Haus grenzenden Wälder im Herzen Colorados spaziert.
    Ich schloss die Augen und genoss die Perspektive des kleinen Mädchens, das ich damals war: Ich schaute hinauf zu den hohen Wipfeln der Bäume, die sich leise rauschend im Wind wiegten, ich schaute nach oben in das faltige Gesicht meines Großvaters und auf seine Hand, die neben meinem Kopf herunterhing und die meine umfasste und beim Gehen hin- und herschaukelte. In Großvaters Rucksack war immer eine Flasche

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