Animus
gespürt, dass etwas nicht stimmt. Ich ging ins Vorderhaus, rief den Hausmeister und ließ Barbaras Wohnung öffnen. Sie lag in der Küche. Neben einer umgestoßenen Leiter. Und einer heruntergefallenen Keksdose. Fast eine Woche hat sie dagelegen. Mit einer Gehirnerschütterung. Und einem gebrochenen Bein. Sie hat bestimmt um Hilfe gerufen. Aber niemand ist gekommen. Da ist sie gestorben. Einfach so. Ganz allein. Weil keiner gekommen ist.«
Ihre Tränen strömten. »Am nächsten Tag bin ich wieder hin. Um ihre Sachen zu ordnen. Weißt du, was ich gefunden habe? Barbara hatte noch ganze drei Dollar gehabt und absolut nichts zu essen im Haus, außer diesen alten Keksen aus der Dose. Sie war kurz vorm Verhungern! Die drei Dollar wollte sie wahrscheinlich aufheben, bis ich komme. Wenn ich sie besucht habe, hat sie immer einen kleinen Kuchen mit einer Kerze auf den Tisch gestellt. Wer weiß, vielleicht wollte sie sich den Rest der Woche bis zu meiner Ankunft von diesen Keksen ernähren.«
Sie machte eine Pause und wischte sich mit dem Ärmel die Tränen vom Gesicht. »Sie hat nie Geld von mir genommen. Wenn ich bei ihr war, habe ich eingekauft, ihr den Kühlschrank vollgestopft und irgendwo ein paar Hundert Dollar versteckt. Damit sie das Geld erst findet, wenn ich weg bin.«
Das Reden fiel Katya zusehends schwerer. »Barbara war fast neunzig. Eine stolze Frau. Sie hat immer gesagt, wenn sie stirbt, dann geht ihre Seele in einen Baum. Das ist ein alter litauischer Glaube. Die Seelen der Frauen wandern in einen Baum, in eine andere Pflanze oder – wenn man ein schlechter Mensch war – in eine Eule. Barbara hatte sich einen Baum gewünscht. Bestimmt hat sie einen wunderschönen gefunden, einen großen, starken, der im Frühling zartrosa Blüten hat und ganz viele Früchte trägt …«
Sie räusperte sich, um ihrer wackligen Stimme wieder Festigkeit zu verleihen. »Ich bin dann durchs Wohnhaus. Habe mit den Nachbarn gesprochen. Die Ätzkuh von nebenan erzählte mir ganz gleichmütig, sie habe komische Geräusche in Barbaras Wohnung gehört. Aber sie hat gedacht, es ist der Fernseher. Keiner im Haus hat sich gewundert, dass die alte Dame seit einer Woche nicht mehr aus der Wohnung kam. Dass sich die Post vor ihrer Tür stapelt. Die Schlampe aus der Wohnung nebenan habe ich geschlagen. Ich habe sie verprügelt, bis sie grün und blau war. Barbara ist einfach gestorben. Stell dir vor, sie lag da, rief um Hilfe. Wie furchtbar das sein muss. Wenn du da liegst und weißt, du stirbst langsam. Weil kein Mensch an dich denkt!«
Katya trank ihr Glas aus. Ich schenkte nach.
Sie erzählte weiter: »Ich musste noch ein paar Tage in New York bleiben, um die Beerdigung zu arrangieren. Auf der ich der einzige Trauergast war. An dem Tag jedenfalls, als ich die Nachbarin verprügelt hatte, bin ich kurz darauf in die U-Bahn. Ich wollte zum Beerdigungsinstitut. Dann der Alarm, plötzlich, heftig. Ich habe mich umgesehen, die Leute betrachtet. Ich habe sie alle gehasst. Sie hatten Barbara sterben lassen, die ganze Stadt. Jeder gottverdammte Einzelne von ihnen. Da bin ich ausgestiegen. Inzwischen weiß ich, ich habe nur die Schuld auf andere geschoben. Weil ich nicht wahrhaben wollte, dass mich die größte Schuld trifft. Wenn einer sich um Barbara hätte kümmern müssen, dann ich! Du kannst dir nicht vorstellen, welchen unglaublichen Hass ich in mir fühle, Lucy. Es erschreckt mich selbst. Aber ich hasse dieses Land, ich hasse die Leute, und mich selbst hasse ich am meisten.«
Ich nahm ihre Hand und hielt sie ganz fest: »Warum hast du mich nicht angerufen? Wieso erzählst du mir erst jetzt davon?«
Sie schluchzte wie ein Kind. »Du hattest jede Menge Jobs in der Zeit, du hättest nicht nach New York gekonnt. Außerdem fällt es mir verdammt schwer, dir so etwas Furchtbares über mich zu erzählen.«
»Ich dachte, du vertraust mir«, sagte ich leise.
»Es gibt ’ne Menge, worüber wir kein Wort verlieren. Weil wir Angst vor der Wahrheit haben. Wir tun doch beide so, als würden wir ein ganz normales, zufriedenes Leben führen.«
»Falls Normalität und Zufriedenheit überhaupt existieren.«
»Du lenkst ab«, murrte sie. »Statt den Mund aufzumachen. Dir ist in letzter Zeit häufig übel, aber du bleibst stumm. Ich habe ähnliche Symptome. Keine von uns packt aus. Weil wir Angst haben, es könnte der Beginn von einem ähnlichen Exitus sein wie vor vier Jahren. Sybil ist tot. Wieso reden wir nicht darüber? Du weißt es, seit du im
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