Animus
auf, frühstücken, kaufen ein, arbeiten, trinken, essen, träumen, lachen, weinen, und abends gehen wir schlafen. Als würden wir ein normales Leben führen. Aber das tun wir, verdammt noch mal, nicht! Wir sind weit davon entfernt!«
Ich gab ihr recht, und das war keine taktische Maßnahme, die sie in ihrem aufgewühlten Zustand beruhigen sollte.
»Ich weiß, was deine Lieblingsfarbe ist«, fuhr sie fort, »welches Essen, welche Maler, welche Bücher und Musik du liebst, welche Tampons du benutzt. Du weißt, wie oft und wie ich mit Nicolas schlafe, dass ich mich nach Litauen sehne, meine Brüste schön finde und Schlangen hasse. Aber kennen wir uns?«
Plötzlich wurde Katya ganz ruhig. Tränen liefen ihr über die Wangen. Stockend und mit brüchiger Stimme begann sie zu erzählen: »Ich war doch kürzlich in New York. Du erinnerst dich an den Bombenanschlag in Brooklyn? Ich war dabei … in der Subway.«
Katya beschrieb es mir in allen Einzelheiten: die überfüllte U-Bahn. Die zusammengepferchten Menschen. Ein kleiner hässlicher Hund neben ihrem linken Fuß. Er sabbert. Ist unruhig. Ängstlich. Jault. Er bekommt einen Fußtritt von seinem Besitzer. Der Besitzer ist dumm, der Hund nicht. Katya spürt das. Sie spürt noch viel mehr. Ihr System alarmiert klar und deutlich. Sie weiß, dass eine Riesenladung hochgehen wird. Dass jede Menge Menschen sterben werden. Sie sitzt da und überlegt. Sie tut nichts, während sie fieberhaft überlegt. Nichts. Sie wartet bis zur nächsten Station. Steigt aus. Raus aus der Bahn. Raus aus dem Schacht. Steigt einfach aus. Ganz ruhig. Bis zur nächsten Ecke. Sie bleibt stehen. Hält sich die Ohren zu. Dann sieht und hört sie zu. Sie hört den ohrenbetäubenden Knall. Sieht die fliehenden, panischen Menschen. Hört die Sirenen. Sieht die Krankenwagen und Sanitäter. Beobachtet die Aufräumungsarbeiten. Wie sie die Plastikbeutel mit den Leichenteilen herausbringen. Die Beutel schwarz vom Blut. Die kalkweißen Gesichter der Polizeibeamten. Ein Typ vom Katastrophenschutz kotzt sich die Seele aus dem Leib. Er ist noch sehr jung. Eine Frau springt unter Schock von der Trage. Sie hat nur noch einen Arm. Das Blut schießt pulsierend aus der Schulter. Sie fällt um, verblutet. Ihr Blut hinterlässt eine Riesenlache auf dem grauen Asphalt. Alles ist mit einer feinen Staubschicht bedeckt. Die Straße. Der Kiosk an der Ecke. Die Tulpen beim Blumenhändler. Die gaffende Menge. Katya.
Ich goss zwei Wodka ein. Katya nahm das Glas und trank es in einem Zug leer. »Ich bin schuldig, Lucy, ich bin schuldig.«
»Du hast dich an die Vorschriften gehalten – keinen privaten Alarm. Wir dürfen nur eingreifen, wenn wir im Einsatz sind und Sicherheitsbeamte dabeihaben. Du bist nicht schuld.«
»Scheiß auf die Vorschrift!«, widersprach sie wütend. »Normale Menschen können draufgehen, Hauptsache, die Öffentlichkeit erfährt nichts von unserer Existenz, und wir stehen ganz und gar den Wichsern vom Kongress und diesem verfickten Präsidenten zur Verfügung. Wir wissen beide, dass es Mittel und Wege gibt, die Vorschriften zu umgehen. Schließlich hast du es auch schon getan. Ein anonymer Anruf beim Stationsvorsteher … Vielleicht hätte wenigstens die Hälfte der Leute noch herausgekonnt!«
Sie hatte schon wieder recht. »Und?«
»Ich wollte , dass sie verrecken!« Wie wahnsinnig blickte sie mich an, suchte in meinen Augen nicht die Absolution, sondern eine erlösende Verurteilung. »Ich bin schlecht, Lucy, ich bin abgrundtief schlecht. Ich habe kein Recht zu leben. Schon längst nicht mehr.«
In Katyas Blick offenbarten sich höllische Abgründe, in denen sie seit Monaten brannte, sich verzehrte. Und ich hatte keinen Schimmer davon gehabt.
»Warum wolltest du den Leuten nicht helfen?«
Sie griff nach der Flasche, schenkte nach. Schwenkte gedankenverloren das Glas in ihrer Hand. »Ich wollte in New York Barbara besuchen, die frühere Freundin meiner Großmutter.«
Ich nickte. Barbara war Katyas einziger Kontakt zu einer heilen Vergangenheit, das wusste ich. Katyas Familie war längst verstorben, auch die Großmutter.
Katya trank. Und erzählte: »Ich stand vor ihrer Tür und klopfte. Sie wohnte in einem verdreckten, alten Haus in einem wirklich miesen Hinterhof in Brooklyn. Sie öffnete nicht. Dabei wusste sie, dass ich komme. Sie hat sich immer schrecklich gefreut, wenn ich sie besucht habe.«
Katya nahm einen großen Schluck. Dann sprach sie weiter: »Ich hämmerte gegen die Tür. Habe
Weitere Kostenlose Bücher