Animus
Tuns. Blind vor Macht.
Die Krisensitzung nach dem Anschlag bei Noxville hatte erst vor wenigen Tagen stattgefunden. Snyders Sonderkommission, bestehend aus acht in Theorie und Praxis erprobten Strategiespezialisten, brütete Tag und Nacht über dem geforderten Maßnahmenkatalog zur Terroristenbekämpfung. Viel Neues war ihnen noch nicht eingefallen. Die gesetzlich verankerten Möglichkeiten hatten sie längst ausgereizt. Die Absicht unseres Präsidenten, die Legislative nach den Bedürfnissen der Exekutive zu formen statt umgekehrt, widersprach Snyders demokratischer Grundeinstellung, das wusste ich. Der Secret-Service-Chef war nicht zimperlich, was die Auslegung von Gesetzen betraf. Dennoch versuchte er, die von ihm koordinierten Aktionen in einem juristisch und ethisch vertretbaren Rahmen zu halten – in einer Balance, die für ihn unter anderem besagte, dass zehn tote Agenten für einen gefassten Terroristen ein mieses Geschäft waren. Für Snyder war selbst das umgekehrte Verhältnis eine Milchmädchenrechnung.
Sentimentalitäten muss man sich leisten können. Doch Snyder war mir sympathisch. Ich schätzte seine Berechenbarkeit. Weitaus schwieriger gestaltete sich für mich die Berechenbarkeit des Präsidenten. Nach humanistisch anmutender Mathematik à la Snyder stand ihm nicht der Sinn. Er war schon immer ein Hardliner gewesen, auch wenn er vor drei Jahren wie jeder seiner Vorgänger mit einem ganzen Container voller nobler Versprechen angetreten war und sich als bodenständiger Macher mit sozialen Visionen verkauft hatte. Diese Maske hatte er schon lange fallen lassen, und sowohl ich als auch die PR-Abteilung konnten es als Erfolg verbuchen, dass seine Umfragewerte seitdem gestiegen waren. Ein Teil dieses Erfolgs gebührte natürlich den terroristischen Splittergruppen, die die Salonfähigkeit einer fundamentalistischen Regierungspolitik erst ermöglicht hatten.
In letzter Zeit jedoch schien mir das einzig Berechenbare an unserem Präsidenten seine Unberechenbarkeit zu sein, was ich mit wachsender Besorgnis verfolgte. Während ich nach einem Kurzbesuch bei Snyder zum Oval Office fuhr, wünschte ich die alten, mir nur aus dem Politikunterricht bekannten Zeiten des Kalten Krieges zurück: ein klar umrissenes Feindbild, hübsch weit weg … Die Rüstungsspirale hätte dem Präsidenten kindliche Freude bereitet, er hätte seine Panzer und Cruise Missiles zählen können, sich über ausgefallene Überwachungssatelliten ereifert und ansonsten hin und wieder auf dem Schlachtfeld der Diplomatie Mist gebaut. Ein paar falsche Bemerkungen, gelegentlicher Abbruch der Beziehungen, und der Stab hätte sich in alltäglicher Schadensbegrenzung geübt. Eine adrette, geruhsame Vorstellung. Doch die Dinge lagen anders. Im Moment hoffte ich, dass ein Schlag gegen die Stadtguerilla das aufgewühlte Gemüt meines Chefs wieder einigermaßen ins Gleichgewicht brachte. Ansonsten befürchtete ich eine wenig wünschenswerte Eskalation.
Im Oval Office angekommen, unterbreitete ich dem wie üblich schlecht gelaunten Präsidenten die Neuigkeiten: »Es besteht die Möglichkeit, dass die Stadtguerilla ein Hauptlager im New Yorker Stadtteil Yonkers unterhält. Die Informationen, die das FBI erhalten hat, machen einen zuverlässigen Eindruck. Sam Rodkin von der Sondereinheit soll so schnell wie möglich zuschlagen. Wenn Tipps über einen Mittelsmann kommen, ist sofortiges Handeln geraten. Man weiß nie, in welche Kanäle die Infos sonst noch fließen. Wir würden Sie damit nicht belästigen, Herr Präsident, doch Snyder hat darum gebeten, für diesen Einsatz eine hochrangige Sensorin freizustellen. Die Stützpunkte der Guerilla, die in der Vergangenheit ausgehoben wurden, waren fast alle verdrahtet. Soweit ich das überblicken kann, erlauben die Zeitpläne unserer beiden Zehner hier in Washington durchaus –"
»Das kommt überhaupt nicht infrage, March«, unterbrach mich der Präsident. »Die Zehner stehen zu meiner ständigen Verfügung!«
Genau diese Ignoranz hatte ich erwartet. »Eine Neun haben wir leider nicht mehr. Die Acht aus San Francisco ist mit einem Senator unterwegs, und die beiden Siebener sind auch nicht frei.«
»Das ist mit egal. Sollen sie ’ne Ratte aus dem Lager beischaffen. Die beiden Zehner bleiben hier.« Der Blick des Präsidenten erstickte jeden Gedanken an eine Diskussion im Keim.
Ich versuchte es trotzdem: »Die Frauen aus dem Lager sind unqualifiziert. Und nicht auf den neuen Sprengstoff getestet. Wenn
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