Animus
meist gar nicht kennen will. Man kann nichts tun, ist dem Ganzen hilflos ausgesetzt und fühlt sich wie ein vernetzter Voyeur.«
»Um Himmels willen, wovon redet ihr?«, fuhr Schmelzer dazwischen.
Ich erklärte es ihm: »Wir sind auf Killer geschult, auf Waffen, auf direkte, immense Bedrohungen, Sprengstoffe, Splitterbomben und so weiter. Aber unsere Systeme sind inzwischen so feinnervig, dass wir auch subtileres Unheil spüren. Ich rede nicht von Gefahrensituationen, in die wir uns wegen der Jobs hineinbegeben müssen, sondern von Bedrohungen im Alltag der Menschen um uns herum.«
»Wie soll ich mir das vorstellen?«
»Lucy sieht, ich fühle«, meinte Katya. »Stellen Sie es sich so vor: Ich gehe einkaufen, stehe an der Käsetheke und spüre plötzlich einen unglaublichen Schmerz im Unterleib, von einer Sekunde auf die andere. Es tut weh, ich könnte schreien. Aber ich bin okay, es sind nur diese Wahrnehmungsblitze. Als ich mich umdrehe, steht hinter mir ein junges Mädchen. Ich weiß, sie ist missbraucht, vergewaltigt worden oder wird es werden. Ich fühle. Lucy sieht es: das Messer, das auf eine Frau niedersaust, Hände, die schützend vors Gesicht gehalten werden, klaffende Wunden …«
»Ihr spürt also nicht nur die unmittelbare Nähe einer terroristischen Gefahr, für die ihr geschult seid, sondern … mein Gott …« Schmelzer hielt entsetzt inne.
»Genau, Professor. Wir spüren Gefahr, wo immer sie stattfindet, stattgefunden hat oder stattfinden wird. Und zwar nicht nur an dem Ort, an dem etwas passieren wird, sondern auch in nächster Nähe der Menschen, die davon betroffen sind. Bei Tieren funktioniert es leider auch. Ich streichelte mal einen Hund, der regelmäßig geprügelt wird. Können Sie sich vorstellen, wie das ist, Professor?«, fragte Katya.
Schmelzer trank sein Glas in einem Zug leer und goss nach. Er schüttelte nur den Kopf.
»Deswegen gehen wir selten aus. Wir vermeiden es, mit Menschen in Kontakt zu kommen. Sie glauben nicht, was einem auf einem Einkaufsbummel alles begegnet.«
»Ich will es gar nicht wissen. Das Furchtbare ist nur, dass ihr es sicher auch nicht wissen wollt. Habt ihr eine Ahnung, wie oft ich mich schon für die Entwicklung von C15 verflucht habe? Ich teste gerade … aber davon später.« Er machte eine kleine Pause, stierte auf die Tischplatte. »Wisst ihr, ob Sybil ähnliche Probleme hatte? Irgendetwas muss mit ihr passiert sein. Walcott hat mir nicht mal die Chance gegeben, sie zu untersuchen, dieses Schwein!«
Ich legte ihm beschwichtigend die Hand auf den Unterarm. »Hören Sie, Professor, wir machen Ihnen keine Vorwürfe. Was Sybil betrifft … Sie hat auch auf ihre Umwelt reagiert, klar. Wir können das nicht abstellen, die körperlichen Reaktionen aber einigermaßen kontrollieren. Darauf sind wir schließlich trainiert. Es muss etwas anderes gewesen sein, das sie hat austicken lassen.«
Der erste Gang wurde serviert. Es entstand eine kleine Gesprächspause, in der wir reichlich lustlos in unseren Tellern herumstocherten. Ich war die Erste, die aufgab, und schob mein Lachscarpaccio zurück. »Ich kriege keinen Bissen runter. Euch geht es anscheinend ähnlich. Also schlage ich vor, dass wir in eine Bar gehen und uns betrinken. Wir haben noch jede Menge zu bereden.«
16. Rattenkollaps
Professor Irvin Schmelzer, 64, Biochemiker und Molekularbiologe
Wir wechselten in eine schummrige, leicht schmuddelige Bar nebenan. Am Tresen standen jede Menge mehr oder weniger angetrunkener Gäste, die sich lautstark kommentierend eine Basketballübertragung auf einer Leinwand ansahen. Zielsicher wählten Lucy und Katya eine dunkle Nische in der hintersten Ecke. Blickgeschützt und weg vom Trubel. Ich hatte mich schon oft gewundert, dass sie sich trotz ihres Lebens weit außerhalb der Normalität auch privat so zurückzogen und keinen Kontakt mit anderen Menschen aufnahmen. Jetzt erst verstand ich die grausigen Gründe für ihre kaum freiwillig zu nennende Isolation. Wir schwiegen, bis der fette, schwitzende Wirt Wodka und Whisky auf den klebrigen Tisch vor uns stellte.
»Lucy, du hast gesagt, es müsste etwas anderes gewesen sein, was mit Sybil passiert ist. Woran denkst du?«, nahm ich den Faden wieder auf.
»Das wollten wir von Ihnen wissen, Professor«, beantwortete Katya meine Frage und kippte ihren Wodka entschlossen hinunter.
Lucy nickte zustimmend. »Wir fürchten, es könnte das gewesen sein, was vor vier Jahren mit den anderen Ratten passiert ist. Deswegen
Weitere Kostenlose Bücher