Animus
ausgesucht, sondern auch eine Silvesterparty für uns organisiert hat? Das heißt, auch Stufe Fünf und abwärts werden nicht wie ursprünglich geplant am 30. zurückgebracht, sondern erst am 2. Januar. Das Shoppen kannst du knicken, Ann, da ist Walcott vor. Aber bestimmt kannst du dir auf der Party einen Schatten abgreifen. Dann kommst du wenigstens in puncto Vögeln auf deine Kosten. Saufen tust du doch sowieso.«
Alle lachten, auch Ann. Wie ein Haufen pubertierender Teenager auf Klassenfahrt schrien und quietschten wir durcheinander, knufften uns begeistert in die Seiten. Lediglich Isabel lächelte bloß zurückhaltend.
Nach ein paar Minuten hob Schmelzer die Hände und bremste uns: »Meine Damen, meine Damen! Wenn ich bitten darf? Sie können jetzt auf Ihre Zimmer gehen und sich frisch machen. Sie treffen sich mit Lucy und Katya in einer Stunde, also um drei Uhr, wieder hier.«
Schmelzer nahm seine Jacke und seinen Hut. Er hatte einen Termin bei March, versprach aber, am nächsten Morgen wiederzukommen, um mit uns zu frühstücken. Wir gingen in unsere Zimmer, bestaunten gemeinsam jedes einzelne. Tatsächlich waren sie ähnlich gestylt wie das Foyer des Hotels. Die Betten waren rund, ebenso wie die Badewannen, und überall blinkten bunte Knöpfchen auf Konsolen, deren Funktionen zu erforschen sicher über eine Stunde gedauert hätte. Die Telefone waren entfernt worden.
Im Tonfall einer gestrengen Lehrerin fragte Lucy uns: »Na, sind die Buden verwanzt?«
Tina blickte sie belustigt an. »Klar. Jedes Zimmer. Sollen wir Kammerjäger spielen?«
»Wozu? Sollen Walcotts Jungs doch auch ein bisschen Spaß haben«, meinte Lucy lächelnd.
Sie nahm ein kleines Kofferradio von der Konsole über dem Bett, stellte es vor die Heizung, wo sie die Wanze erspürt hatte, und drehte die Lautstärke auf Maximum. Dann trennten wir uns. Lucy und Katya blieben bei Tina im Zimmer, wir anderen zogen uns in unsere zurück. Ich wollte unbedingt in die runde Badewanne. Beim Baden muss ich wohl eingeschlafen sein. Deshalb kam ich etwas zu spät in den Konferenzraum zurück. Doch Lucy lächelte mich nur freundlich an und fuhr mit ihrem Vortrag fort: »… sind die Differenzierungen nicht nach allgemeingültigen, sondern nach individuellen Erfahrungen zu katalogisieren. Manche von uns spüren Feuergefahr als Hitze, andere als Atemnot. Ihr müsst zuerst lernen, ganz genau hinzuhören. Eure Reaktionen werden gewisse unterschiedliche Grundmuster aufweisen, die geprägt sind von euren eigenen Erfahrungen, euren Phantasien, Ängsten, eurer Sozialisation. Uns allen aber ist gemeinsam, dass die Sensibilisierung tatsächlich weitaus ausgeprägter ist als bei normalen Menschen. Viele Leute spüren Gefahren, sie übergehen diese Gefühle aber, nehmen sie nicht ernst. Unsere Aufmerksamkeit ist aufgrund persönlicher Faktoren erhöht, zudem geschult und chemisch potenziert. Ziel ist, damit umzugehen und genauestens zu definieren. Verfolger, Wanze, Mikro, Messer, Bombe, Pistole, Feuer, Sprengstoff, ABC-Waffen, Wahnsinnige mit Rasierklingen oder Handgranaten, Serienkiller, Massenmörder, Attentäter – die Gefahren sind vielfältiger Natur. Im Laufe eurer Ausbildung habt ihr sicher festgestellt, dass ihr für bestimmte Gefahrengebiete besonders aufnahmefähig seid. Die eine kann hervorragend Waffen differenzieren, die andere spürt eher die Bedrohung, die von einer kranken Psyche ausgeht. Hört in euch hinein! Drängen sich euch Bilder auf? Empfindungen? Körperliche Reaktionen? Bezieht sich euer Alarm auf die Ursachen der Gefahr oder auf die möglichen Folgen? Da es nicht nur unermesslich viele Spielarten von Bedrohung gibt, sondern mindestens genauso viele mögliche individuelle Reaktionsweisen, dauert die Ausbildung Jahre. Spezialisierungen sind okay, wegen der Intensitäten und der Bandbreite unserer Fähigkeiten sogar wünschenswert, aber draufhaben müsst ihr alles. Präzise, sicher und fehlerfrei. Die eigenen Grenzen müssen erkannt werden. Nur dann kann man bewusst an ihrer Erweiterung arbeiten. Weder Experimente noch Selbstüberschätzung, noch Gottvertrauen haben einen Platz in unserer Arbeit. Denkt an Becky. Nehmt eure Psychotherapie ernst. Denn ihr müsst auch eure privaten Ängste so im Griff haben, dass sie den Alarm nicht überlagern oder verfälschen. Wir hatten mal eine Kollegin, die schlug während der Ausbildung in Roswell jedes Mal in der Halle Alarm, auch wenn sie in Blindgänger geführt wurde. Keiner konnte sich das erklären,
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