Animus
aus Wut über das ganze vergurkte Leben prügeln Sie jetzt Ihren Sohn windelweich. Mit einem Elektrokabel oder Ähnlichem. Ist es nicht so?«
Die Frau erblasste. Ihre Augen weiteten sich vor Verblüffung. Dann stürzten die Tränen hervor, sie schlug die Hände vors Gesicht und schüttelte sich in Weinkrämpfen.
»Ich will das doch nicht! Es tut mir noch mehr weh als ihm, ich will das doch gar nicht. Ich weiß auch nicht, ich will das doch nicht«, stammelte sie.
Ich legte ihr beide Hände auf die Schultern und schüttelte sie, bis sie mir ins Gesicht sah. »Dann lassen Sie es doch! Gehen Sie in Therapie. Hören Sie auf zu saufen. Aber hören Sie vor allem auf, Ihren Sohn zu schlagen! Sonst lasse ich Sie einsperren.« Ich zeigte ihr kurz meinen Ausweis.
»Ja! Ich höre auf damit. Ja. Ganz bestimmt.« Sie schaute mich an wie eine Irre, die den Teufel sah. Dabei hatte sie nur einen kurzen Blick auf ihr Leben geworfen. Das schien zu genügen. Ich ließ sie los, winkte dem Barmann und zahlte meine Rechnung. Als ich hinausging, hörte ich gerade noch, wie die Frau einen neuen Gin bestellte.
Mir war übel. Was für eine Scheiße! Sicher würde sie nach Hause gehen und ihren Sohn durch die Wohnung schlagen. Vielleicht würde sie annehmen, ihr Sohn hätte sie verraten und sich über sie beschwert. Vielleicht hätte ich nichts sagen sollen. Vielleicht hätte ich sie prügeln sollen. Ich fühlte mich hilflos, dreckig und müde. Auf dem Nachhauseweg dachte ich an Lucy. Erst jetzt begann ich zu ahnen, was sie und die anderen durchmachten. Sie sieht so was, dachte ich entsetzt, Lucy sieht das alles. Sie kann gar nicht die Augen davor verschließen. Sie sieht es. Ich leerte den Dimple auf die Straße.
34. Austausch
Lucy, 42, Sensor Stufe 10
Katya und ich hatten Erykah mit nach Hause genommen, nachdem sie in Washington angekommen war. Kaum öffneten wir unsere Haustür, klingelte Katyas Handy. Während wir ablegten, wimmelte sie ihren Anrufer ab: »Nein, Nicolas, wirklich nicht. Es geht nicht. Wir sind gerade erst vom Abendessen mit den anderen zurückgekommen und haben noch jede Menge zu besprechen. Morgen muss ich wieder zum Seminar. Vielleicht am Abend. Ein Stündchen. Aber versprechen kann ich nichts. Ja. Ich dich auch. Tschüss. Ich melde mich. Tschüss.«
Katya legte auf.
»Klingt, als hättest du einen aufdringlichen Lover«, lächelte Erykah, die sich auf das Sofa gesetzt und eine Zigarette angezündet hatte.
Erykah besitzt etwas Aristokratisches. Mit ihrer gazellengleichen Figur und ihrer Anmut wirkt sie selbst in alten Jogginghosen und einem zerrissenen Männerunterhemd noch wie eine nubische Prinzessin. Das Haar trug sie seit Jahren streichholzkurz, wodurch ihre fein geschnittenen Gesichtszüge noch besser zur Geltung kamen. Die Männer waren verrückt nach ihr, was sie als Lesbe stets mit Verachtung quittierte. In einem speziellen, rassistisch geprägten Fall von derber Anmache gab es ein Messer als Quittung. Ihre lebenslange Haftstrafe und die darauffolgende bescheidene Zukunft als Ratte hatten ihr jedoch eine andere Schnitzarbeit eingebracht: die tödlichen Verletzungen, die sie ihrer weißen Geliebten zufügte, als sie diese mit einem Kerl im Bett erwischte.
»Nicolas ist okay. Aber in letzter Zeit geht er mir irgendwie auf den Wecker. Vielleicht brauche ich einen neuen Kerl.« Katya setzte sich zu Erykah und angelte einen Glimmstängel aus der Packung.
Ich öffnete eine Flasche alten französischen Burgunder, den ich extra für Erykahs Ankunft gekauft hatte. Seit über zwei Jahren hatten wir uns nicht gesehen. Es dauerte eine Weile, bis das erste Geplänkel und der Austausch der neuesten Fakten über diverse Liebschaften abgehakt waren. Die Nacht breitete schon ihr Tuch über die Stadt, als wir auf den Kern der Dinge zu sprechen kamen.
»Erykah, du kannst dir sicher denken, dass wir noch mehr mit dir zu besprechen haben«, begann ich das Gespräch in andere Bahnen zu lenken.
»Sybil?«
»Unter anderem«, nickte ich.
»Tja, das Thema gibt auch mir einige Rätsel auf. Wie ihr wisst, hat Sybil nie viel gequatscht. Wir haben uns kaum gesehen, obwohl wir in relativer Nähe zueinander gearbeitet haben. Aber kurz bevor sie abserviert worden ist … Ihr seid euch darüber im Klaren, dass Walcott da seine Schmutzgriffel im Spiel hatte? Oder haben sie euch die Story vom Selbstmord erzählt, die als kleine Meldung in der Zeitung platziert war?«
Katya schüttelte den Kopf. »Dank Lucys intensiver Beziehungen
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