Anita Blake 02 - Bllutroter Mond
Tenderloin war ursprünglich im Hafen gewesen.
Aber wie so vieles in St. Louis hatte sich auch das Rotlichtviertel in die obere Stadt verlagert. Fahren Sie über die Washington am Fox Theater vorbei, wo die BroadwayEnsembles ihre Musicals aufführen. Bleiben Sie auf der Washington bis zum Westrand der Innenstadt, und Sie gelangen zu dem wiederbelebten Kadaver des Tenderloin.
Die nächtlichen Straßen sind von Neonlicht überzogen, von sprühenden, blitzenden, pulsierenden Farben. Es wirkt wie eine Art pornografischer Karneval. Es fehlt nur ein Riesenrad auf einem der freien Plätze. Man könnte Zuckerwatte in Form von nackten Menschen verkaufen. Die Kleinen könnten Spaß haben, während Papi geht und sich aufgeilt. Mami bräuchte es nicht zu erfahren.
Jean-Claude saß neben mir im Wagen. Auf der Fahrt hierher war er schrecklich still gewesen. Ich hatte von Zeit zu Zeit zu ihm hinsehen müssen, um mich zu vergewissern, ob er noch da war. Menschen machen Geräusche. Ich meine nicht, dass sie reden oder rülpsen oder etwas Offenkundiges tun. Sondern sie zappeln herum, der Kleiderstoff reibt über den Sitz, sie atmen, man hört den leichten Luftstrom, sie lecken sich über die Lippen, ein feuchter Laut, wenn auch sehr leise. Jean-Claude tat nichts dergleichen. Ich hätte nicht einmal beschwören können, dass er einmal blinzelte. Die lebenden Toten, wie witzig.
Ich kann so gut wie jeder andere Stille ertragen, sogar besser als die meisten Frauen und viele Männer. Jetzt wollte ich die Stille dringend verscheuchen. Reden um der Laute willen. Ein unnötiger Krafteinsatz, aber ich brauchte das jetzt.
»Jean-Claude, sind Sie noch da?« Sein Hals drehte sich und drehte den Kopf mit herum. Seine Augen glänzten, reflektierten die Neonschilder wie dunkles Glas. Scheiße.
»Sie können so tun wie ein Mensch, Jean-Claude, besser als jeder andere Vampir, den ich kenne. Woher kommt dieses ganze übernatürliche Zeug?« »Zeug?«, wiederholte er sanft. »Ja, warum kommen Sie mir so gespenstisch?« »Gespenstisch?«, fragte er, und der Klang breitete sich im Wagen aus. Als bedeutete das Wort etwas vollkommen anderes.
»Lassen Sie das«, bat ich. »Was soll ich lassen?« »Immer mit einer Gegenfrage zu reagieren.« Er blinzelte einmal. »Es tut mir Leid, ma petite, aber ich kann die Straße spüren.« »Die Straße spüren? Was soll das heißen?«
Er ließ sich in den Sitz sinken, lehnte Kopf und Nacken gegen das Polster. Die Hände verschränkten sich über seinem Bauch. »Hier ist eine ganze Menge Leben.« »Leben?« Er brachte mich glatt dazu, genauso blöd zu fragen. `
»Ja«, sagte er, »ich kann fühlen, wie sie hin und her laufen. Kleine Geschöpfe auf der verzweifelten Suche nach Liebe, Schmerz, Anerkennung, Befriedigung ihrer Gier. Hier ist viel Gier zu spüren, hauptsächlich aber Schmerz und Liebe.«
»Bei einer Prostituierten sucht man keine Liebe. Man will Sex.«
Er rollte den Kopf herum, sodass seine dunklen Augen mich ansahen. »Viele Leute bringen das durcheinander.«
Ich blickte geradeaus auf die Straße. Meine Nackenhaare waren aufgerichtet. »Sie haben heute noch nicht gespeist, nicht wahr?« »Sie sind der Vampirexperte. Wissen Sie es nicht selbst?« Seine Stimme hatte sich zu einem Flüstern gesenkt. Es klang rau und dumpf.
»Sie wissen, dass ich es bei Ihnen nie unterscheiden kann.« »Ein Kompliment für meine Kräfte, wie ich meine.« »Ich habe Sie nicht zum Jagen mitgenommen«, stellte ich klar. Es hörte sich entschieden an, eine Spur zu laut. Mein Herz wummerte bis in den Kopf.
»Würden Sie mir verbieten, heute Nacht zu jagen?«, fragte er.
Ich dachte einen Augenblick oder zwei darüber nach. Wir würden noch eine Runde fahren müssen, um einen Parkplatz zu finden. Würde ich ihm verbieten, heute Nacht zu jagen? Ja. Er kannte die Antwort. Das war eine Fangfrage. Zu dumm, dass ich nicht wusste, wozu er mich fangen wollte.
»Ich würde Sie bitten, hier heute Nacht nicht zu jagen«, sagte ich. »Nennen Sie mir einen Grund, Anita.«
Er hatte mich Anita genannt, ohne dass ich ihm das Stichwort gegeben hatte. Er verfolgte eindeutig einen Zweck. »Weil ich Sie hierher gebracht habe. Sie würden nicht hier jagen, wenn ich nicht gewesen wäre.«
»Sie fühlen sich dafür schuldig, gleich, von wem ich mich heute ernähre?« »Es ist ungesetzlich, jemanden gegen seinen Willen zu nehmen«, antwortete ich ausweichend. »So ist es.«
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