Anita Blake 03 - Zirkus der Versammten
sagte ich.
Der Junge wollte sich unbedingt umdrehen, also nahm ich ihn bei den Schultern und half ihm. Ich versuchte, seinen rechten Arm am Körper zu halten. Ich sah zwei riesige braune Augen, ein rundes Kindergesicht und in seiner rechten Hand ein Messer, größer als er selbst. Er flüsterte: »Sag ihm, er soll kommen und mich tragen helfen.« Zwischen den Kinderlippen traten winzige Reißzähne hervor. Das Messer saß an meinem Magen oberhalb der Gürteltasche. Die Spitze glitt unter die Lederjacke und stach in das T-Shirt. Ich erlebte einen dieser Momente, wo sich die Zeit dehnt und der Albtraum in Zeitlupe abläuft. Ich hatte alle Zeit der Welt, um zu entscheiden, ob ich Larry verraten oder sterben wollte. Niemals jemanden an die Monster verraten, so lautet die Regel. Ich öffnete den Mund und kreischte: »Rennen Sie!«
Der Vampir erstach mich nicht. Er zuckte einfach zusammen. Er wollte mich lebend; darum das Messer und nicht die Reißzähne. Ich stand auf, und der Vampir starrte mich nur an. Er hatte keinen Ersatzplan. Prima.
Der Wagen stand mit offenen Türen da und goss sein Licht in die Dunkelheit. Die Scheinwerfer machten einen theatralischen Lichtfleck. Larry stand unentschlossen da und rührte sich nicht. Ich schrie: »In den Wagen!«
Er bewegte sich rückwärts auf die Wagentür zu. Im Lichtkegel der Scheinwerfer stand eine Frau. Sie trug einen langen weißen Mantel über einem sehr hübschen braunen und cremefarbenen Hosenanzug. Sie öffnete die Lippen und fauchte, die Reißzähne blitzten.
Ich rannte und schrie: »Hinter Ihnen!«
Larry starrte mich an, sein Blick ging an mir vorbei. Seine Augen weiteten sich. Ich konnte das Tappen kleiner Füße hören. Entsetzen überzog Larrys Gesicht. War das der erste Vampir, den er zu Gesicht bekam?
Ich zog die Pistole, rannte aber weiter. Man trifft rein gar nichts, wenn man rennt. Ich hatte einen Vampir vor mir und einen hinter mir. Jetzt eine Münze werfen.
Die Frau sprang auf die Motorhaube und warf sich in einem langen, eleganten Bogen über das Dach und auf Larry, sodass sie zusammen über die Straße rollten. Ich konnte nicht auf sie schießen, ohne Larry zu gefährden. Ich fuhr in letzter Sekunde herum und drückte dem Kindervampir den Lauf ins Gesicht.
Er riss die Augen auf. Ich drückte ab. Etwas traf mich von hinten. Mein Schuss ging daneben, und ich lag auf der Straße, flach auf dem Bauch, mit etwas auf mir drauf, das größer war als eine Brotschachtel.
Der Schlag hatte mir den Atem verschlagen, aber ich drehte mich trotzdem um und versuchte, die Pistole auf das zu richten, was auf meinem Rücken saß. Wenn ich jetzt nichts tat, brauchte ich mir übers Atmen nie wieder Gedanken zu machen.
Der Junge stürzte auf mich zu, das Messer fuhr blitzend nieder. Die Pistole drehte sich nach hinten, aber zu langsam. Ich hätte geschrien, wenn ich Luft bekommen hätte. Das Messer stach in meinen Jackenärmel. Ich spürte, wie die Klinge in den Asphalt fuhr. Mein Arm saß fest. Ich drückte den Hahn, und der Schuss ging harmlos ins Leere.
Ich verdrehte mir den Hals, um zu sehen, wer oder was da auf mir saß. Es war ein »Was«. In dem roten Licht der Rückscheinwerfer war sein Gesicht völlig flach, hohe Wangenbögen, schmale, schräge Augen und lange glatte Haare.
Er hätte, wenn überhaupt, in Stein gemeißelt gehört, umgeben von Schlangen und aztekischen Göttern.
Er griff über mich hinweg und umschloss meine rechte Hand, die Hand, die festgenagelt war und die die Pistole hielt. Er drückte meine Knochen in das Metall. Seine Stimme war tief und weich. »Lass sie fallen oder ich zerquetsche dir die Hand.« Er drückte, bis ich keuchte.
Larry schrie, hoch und klagend.
Schreien kommt dran, wenn einem nichts Besseres mehr einfällt. Ich schabte meinen linken Ärmel gegen den Asphalt, bis die Armbanduhr und das Armband entblößt waren. Die drei kleinen Kreuze glänzten im Mondlicht. Der Vampir fauchte, ließ aber meine Waffenhand nicht los. Ich zog das Armband über seine Hand. Der scharfe Geruch verbrannter Haut stieg auf, dann zerrte er mit seiner freien Hand an meinem linken Ärmel. Indem er nur den Ärmel festhielt, hielt er auch meine Hand zurück, sodass ich ihn mit den Kreuzen nicht mehr streifen konnte.
Wäre er ein junger Vampir gewesen, der bloße Anblick der Kreuze hätte ihn zum Schreien gebracht. Aber er war auch kein alter Vampir, er war ein uralter Vampir. Hier
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