Anita Blake 04 - Giergige Schatten
Ich musste mich sehr zusammenreißen, um nicht das Gleiche zu tun. Denn dieser Holzkopf suchte nur nach einem Grund. Ich hatte nicht die Absicht, ihm einen zu liefern. Wenn er trotzdem auf mich schoss, würde ich sauer werden.
Er hatte eine 357er Magnum, großartig beim Walfang. Für jeden Zweibeiner war sie der Overkill. Für Menschen jedenfalls. Ich fühlte mich sehr wie ein Mensch, während ich auf den Lauf starrte. Ich wagte einen raschen Blick in sein Gesicht. Er sah gar nicht mehr störrisch aus. Er wirkte jetzt entschlossen und sehr von sich überzeugt, als könnte er abdrücken, ohne dafür bestraft zu werden.
Ich wollte noch einmal nach Dolph schreien, tat es aber nicht. Der Sturkopf würde womöglich deswegen abdrücken. Auf diese Entfernung mit diesem Kaliber wäre ich totes Fleisch. Ich konnte nichts weiter tun, als im Schnee zu stehen, mir langsam die Füße abzufrieren und mich am Wagen festzuhalten. Wenigstens hatte er nicht verlangt, ich solle die Hände hochhalten. Vermutlich sollte ich nicht eher lang hinschlagen, als bis er mein Gehirn über den neuen Lack verteilte.
Es war Detective Clive Perry, der auf uns zukam. Sein dunkles Gesicht reflektierte das zuckende Licht wie Ebenholz. Er war groß, aber nicht so groß wie der teuflische Hilfssheriff. Seine schlanke Gestalt war in einen hellen Kamelhaarmantel gehüllt. Ein perfekt dazu passender Hut saß auf seinem Kopf. Es war ein schöner Hut, aber er konnte nicht bis über die Ohren gezogen werden. Das geht bei den wenigsten schönen Hüten. Man muss eine Pudelmütze anziehen, etwas Gestricktes, das die Frisur ruiniert, um die Ohren warm zu halten. Nicht schick natürlich. Ich trug überhaupt keine Kopfbedeckung. Wollte meine Haare nicht in Unordnung bringen.
Dolph war wieder dazu übergegangen, jemanden anzuschreien. Ich konnte nicht unterscheiden, mit welcher Uniformfarbe er herumschrie, es gab mindestens zwei zur Auswahl. Kurz sah ich einen wild fuchtelnden Arm, der Rest des Mannes war in dem Gedränge nicht zu sehen. Ich hatte noch nie erlebt, dass jemand die Faust vor Dolphs Gesicht schüttelte. Wenn man zwei Meter vier groß ist und gebaut wie ein Ringer, haben die meisten Leute ein bisschen Angst. War vermutlich klug.
»Ms Blake, wir sind noch nicht ganz so weit«, sagte Perry.
Er nennt stets jeden mit Titel und Nachname. Er war einer der höflichsten, denen ich je begegnet war. Hob nie die Stimme, arbeitete unermüdlich, benahm sich immer wohlerzogen. Warum also war er beim Spukkommando gelandet?
Der richtige Name der Einheit war Regional Preternatural Investigation Team. Sie behandelten alle Fälle in der Gegend, die mit dem Übernatürlichen zu tun hatten. Eine Art ständig im Einsatz befindliche Spezialeinheit. Bestimmt hatte niemand damit gerechnet, dass diese Einheit tatsächlich Verbrechen aufklären würde. Aber ihre Erfolgsrate war so hoch, dass man Dolph eingeladen hatte, in Quantico Vorträge zu halten. Vor der Forschungsabteilung des FBI Vorträge zu halten war keine Kleinigkeit.
Ich blickte weiterhin auf den Hilfssheriff und seinen Revolver. Ich würde kein zweites Mal woanders hinsehen. Ich glaubte eigentlich nicht, dass er schießen würde, aber sicher war ich auch nicht. Es lag etwas in seinem Gesicht, das mir sagte, dass er es täte, es vielleicht tun wollte. Manche Leute werden grob, sobald man ihnen eine Waffe gibt. Amtlich bewaffnete Schläger.
»Hallo, Detective Perry. Der Deputy und ich haben ein gewisses Problem.«
»Deputy Aikensen, haben Sie Ihre Waffe gezogen?« Perry redete sanft und ruhig, mit einer Stimme, die Selbstmörder vom Sims zurückholt oder Geiselnehmer zum Aufgeben bringt.
Aikensen wandte den Kopf. »Keine Zivilisten am Tatort, Befehl des Sheriffs.« »Sheriff Titus hat bestimmt nicht gemeint, dass Sie die Zivilisten erschießen sollen, Deputy.« Er warf Perry einen Blick zu. »Machen Sie sich über mich lustig?«
Es wäre genug Zeit gewesen. Ich hätte die Pistole ziehen können. Ich hätte sie ihm gern zwischen die Rippen gestoßen. Ich wollte ihn entwaffnet sehen, aber ich hielt mich zurück. Das kostete mehr Willenskraft, als schön war, aber ich zog die Waffe nicht. Ich war nicht bereit, den Mistkerl umzubringen. Wenn man eine Waffe zieht, besteht immer eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass am Ende jemand tot ist. Wenn man das nicht will, zieht man nicht, so einfach ist das. Aber tief drinnen tat es mir weh, als der Hilfssheriff sich mir wieder zuwandte und noch immer auf mich zielte.
Weitere Kostenlose Bücher