Anita Blake 10 - Ruf des Bluts
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Ich drängte das Bild beiseite. Das brauchte ich nicht – nie wieder. Hatte ich wirklich geglaubt, dass Richard enthaltsam bleiben würde, während ich Jean-Claude bumste? Hatte ich wirklich erwartet, dass er herumsaß und wartete? Vielleicht. Dumm, aber wahr.
Die Badezimmertür war noch geschlossen. Ich hörte Wasser laufen. Duschte er noch einmal? Vielleicht machte er sich nur die Haare noch mal nass. Vielleicht. Oder er wusch sich. Sex war nicht so sauber wie in den Filmen. Echter Sex macht Flecken. Guter Sex macht besonders viele Flecken.
Drei Monate mit Jean-Claude, und ich war Sexexperte. Es war beinahe zum Lachen. Ich war keusch gewesen, bis er mir über den Weg lief. Keine Jungfrau, dafür hatte mein Collegeverlobter gesorgt. Ich war ihm in die Arme gesunken mit der Überzeugung, dass nur die erste Liebe das Wahre ist. Das war die letzte naive Tat, die ich mir zuschulden kommen ließ.
Richard und ich waren verlobt gewesen, ganz kurz, aber nie miteinander im Bett. Wir hatten beide eine Erfahrung im College hinter uns gehabt und danach verzichtet. Eine persönliche Entscheidung, die wir gemeinsam hatten. Wenn wir unserer Lust nachgegeben hätten, wäre jetzt vielleicht nicht mehr so viel Leidenschaft zwischen uns. Natürlich äußerte die sich hauptsächlich in Streit.
Richard war zu weichherzig, zu empfindlich, zu zimperlich gewesen, um das Wolfsrudel zu führen. Er hatte die Chance gehabt, den alten Ulfric zu töten, zweimal sogar, und zweimal hatte er sich geweigert. Also gab es keinen neuen Ulfric. Ich drängte ihn dann, Marcus zu töten. Und nachdem er es getan hatte, ließ ich ihn fallen. Unfair, was? Ich hatte ihm nicht gesagt, er sollte Marcus auch fressen, nur, dass er ihn töten sollte. Aber was ist ein bisschen Kannibalismus unter Freunden?
Das Wasser lief noch immer. Hätte ich nicht befürchtet, er würde nass und mit einem Handtuch herauskommen, hätte ich angeklopft und ihn gebeten, sich zu beeilen. Aber ich hatte für einen Tag genug von Mr Zeeman gesehen. Weniger war jetzt ganz entschieden mehr.
Über dem Schreibtisch waren Fotos angeheftet. Ich trat darauf zu. Ich hatte ein Semester lang Primaten studiert, nordamerikanische. Wir nannten es den Troll-Kurs. Der Kleine Smokey-Mountains-Troll gehört zu den kleinsten nordamerikanischen Trollen. Er ist zwischen einem und anderthalb Meter groß, ernährt sich hauptsächlich von Pflanzen, aber mitunter auch von Aas und Insekten. Ich rief mir alle Fakten ins Gedächtnis, während ich die Fotos durchging. Sie hatten ein schwarzes Fell, hockten gemeinschaftlich auf Bäumen und sahen dann wie große Schimpansen oder kleine Gorillas aus. Aber es gab Bilder von ihnen, wie sie liefen. Sie gingen auf zwei Beinen. Die einzigen Primaten außer dem Menschen mit aufrechtem Gang.
Die Nahaufnahmen waren verblüffend. Die Gesichter waren pelziger als bei anderen Affen und zugleich menschlicher. Einige frühe Theorien behaupteten, die Trolle seien das fehlende Glied zwischen Mensch und Affe. Es hatte mindestens zwei berühmte Fälle im frühen 20. Jahrhundert gegeben, wo ein Zirkus einen Troll ausstellte und ihn als wilden Menschen bezeichnete. Die amerikanischen Siedler hatten Trolle jahrhundertelang gejagt. Bis 1900 waren sie zu einer Seltenheit geworden.
1910 passierten zwei Dinge, die die Trolle vor der Ausrottung bewahrten. Ein wissenschaftlicher Aufsatz erschien, in dem stand, dass Trolle Werkzeuge benutzten und ihre Toten mit Blumen und persönlichen Gegenständen begruben. Der Wissenschaftler vermied es sorgfältig, aus diesen Funden weitergehende Schlussfolgerungen zu ziehen. Das übernahmen die Zeitungen. Sie erklärten, dass Trolle an ein Leben nach dem Tod glaubten, dass sie an Gott glaubten.
Ein evangelischer Pfarrer namens Simon Barkley meinte, dass Gott zu ihm spräche. Er ging hin und fing einen Troll und versuchte, ihn zum Christentum zu bekehren. Er schrieb ein Buch über seine Erfahrungen mit Peter (dem Troll), und es wurde ein Bestseller. Plötzlich waren Trolle der letzte Schrei.
Einer meiner Biologieprofs hatte in seinem Büro ein Schwarzweißfoto von dem Troll Peter. Peter hielt darauf den Kopf tief gebeugt und die Hände gefaltet. Er war sogar bekleidet, während Pfarrer Barkley sich häufig beklagte, dass Peter sich ohne ständige Beaufsichtigung immer wieder auszog.
Ich war mir nicht sicher, wie gut Peter es bei Barkley gehabt hatte, doch der Pfarrer bewahrte seine Art vor der
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