Anita Blake 12 - Nacht der Schatten
schulterlangen Locken, als hätte er das schon den ganzen Abend tun wollen. Die Bewegungen waren grob und hektisch vor Anspannung.
Er sah mich an. Die dunkelbraunen Haare hingen ihm unordentlich ums Gesicht, die Augen leuchteten. Von einem Moment auf den anderen war aus dem netten, attraktiven Mann ein wildes, fremdes Wesen geworden. Es lag nicht nur an den Haaren oder den Katzenaugen. Sein Tier brodelte über meine Haut wie kochendes Wasser. Ich spürte seine Kräfte nicht zum ersten Mal, aber diese sengende Hitze hatte ich noch nicht erlebt. Dann merkte ich, dass ich die Hitze sehen konnte, sie wirklich sah. Sie strömte über ihn, eigentlich unsichtbar, aber nur eigentlich. So wie wenn man etwas aus den Augenwinkeln wahrnimmt, nahm ich etwas Monströses, Lauerndes rings um ihn wahr, einen flimmernden Schemen. Ich war seit Jahren mit Gestaltwandlern zusammen, aber so etwas hatte ich noch nie gesehen.
Merle erschien im Türrahmen. »Nimir-Raj, ist etwas nicht in Ordnung?«
Micah drehte sich um, und der flimmernde Schemen folgte der Bewegung. Es kam mir vor wie ein Nachbild. Seine Stimme kam tief und knurrend. »Wieso, was sollte nicht in Ordnung sein?«
Gina schob sich an Merle vorbei. »Wir müssen jetzt gehen, Micah.«
Micah hob die Hände, und das Nachbild bewegte sich mit ihm. Krallen und Fell waren daran nicht zu erkennen, höchstens andeutungsweise. Er bedeckte die Augen mit den Händen, und ich sah geisterhafte Pranken in sein Gesicht und durch seinen Kopf greifen. Mir wurde schwindlig davon, und ich blickte auf die Tischplatte, um meine Sicht und die schwankende Realität zu stabilisieren.
Von Marianne wusste ich, dass sie an Menschen und Lykanthropen Machtauren sehen konnte, aber mir war das bislang nicht möglich gewesen.
Ich spürte, wie sich seine Macht, die Hitze, das haarsträubende Gefühl zurückzog wie das Meer vom Ufer, und schaute auf. Die Aura war verschwunden, in seinem Körper aufgegangen.
Er starrte mich an. »Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.«
»Da liegst du gar nicht so falsch«, sagte ich. »Sie hat Angst vor deiner Macht«, sagte Gina spöttisch.
»Ich habe seine Aura gesehen«, sagte ich zu Gina, »einen weißen Schemen um seinen Körper.«
»Das klingt, als wäre es das erste Mal gewesen«, sagte Micah. »War es auch, jedenfalls optisch.«
Gina nahm seinen Arm und wollte ihn sanft, aber entschlossen zur Tür ziehen. Er blickte sie wortlos an, und ich spürte seine Präsenz, seine Persönlichkeit, wie etwas Greifbares.
Gina sank auf die Knie, ergriff seine Hand und rieb ihre Wange daran. »War nicht böse gemeint, Micah.« Sein Gesichtsausdruck war kalt. Seine Macht, seine Kraft trat wieder hervor.
»Nimir-Raj«, sagte Merle, »wenn du gehen willst, musst du jetzt gehen. Wenn nicht...« Er sprach vorsichtig, fast behutsam, mit einem mitleidigen Beiklang, und ich verstand nicht, warum.
Micah knurrte ihn an, dann erwiderte er mit normaler menschlicher Stimme: »Ich kenne meine Pflicht als Nimir-Raj, Merle.«
»Ich würde mir nie anmaßen, sie dir vorzuhalten, Micah«, sagte Merle.
Micah wirkte plötzlich wieder müde. All die Energie war wie fortgeschwemmt. Er half Gina auf die Füße, was komisch aussah, weil sie über einen Kopf größer war als er. »Gehen wir.«
Sie wandten sich alle der Tür zu. »Ich hoffe, deinem Leoparden geht es gut«, sagte ich.
Micah blickte über die Schulter. »Würde es Nathaniel gut gehen, wenn er dich um Hilfe riefe?«
»Nein.«
Er nickte und ging. In der Tür blieb er noch einmal stehen und sagte, ohne sich umzudrehen: »Ich nehme Noah und Gina mit. Ist es in Ordnung, wenn ich Merle und Caleb hier lasse?«
»Wirst du sie denn nicht brauchen?«
Er drehte lächelnd den Kopf. »Ich muss Violet nur abholen. Dafür brauche ich keine Unterstützung. Aber du wirst vielleicht ein bisschen Verstärkung haben wollen.«
»Du meinst, für den Fall, dass Jacobs Anhänger lästig werden?« Sein Lächeln wurde breiter. »Lästig, ja, genau für den Fall.«
Dann gingen sie ins Nebenzimmer, und ich saß allein am Küchentisch. Lillian kam wieder herein. Ihre Augen waren schmal.
»Was ist?«, fragte ich. Sie schüttelte den Kopf. »Es geht mich nichts an.« »Das stimmt.« »Aber wenn, dann ... « »Tut es aber nicht«, sagte ich.
Sie lächelte. »Aber wenn, dann würde ich zwei Dinge anmerken.«
»Sie werden sie auf
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