Anklage
Meinung.
Wir hatten uns nicht viel zu sagen, und so verlief die Fahrt schweigend. Nur die freundliche Stimme des Navigationssystems unterbrach die verkrampfte Stille.
Im Betrieb angekommen, wurden wir in einen großen Saal, den Speisesaal, geführt. Er war groß genug, um die gesamte Belegschaft aufzunehmen. Auf einer Seite des Raums waren drei Tische nebeneinander aufgestellt. Die restlichen Tische des Speisesaals standen in unveränderter Anordnung. Alle Plätze an diesen Tischen waren besetzt. Neben den Eingängen standen einige Mitarbeiter an die Wand gelehnt. Den meisten sah man an, dass sie ihren Lebensunterhalt mit harter körperlicher Arbeit verdienten. Viele Gesichter hatten einen abgearbeiteten, erschöpften Ausdruck, aber trotz der gefährlichen Situation des Betriebs war in ihnen Lebensfreude und Energie zu sehen. So viel Rechtschaffenheit und Optimismus hatte ich schon lange nicht mehr wahrgenommen, nicht in der Kanzlei und natürlich erst recht nicht im Knast. Ich war ehrlich froh, dass es auch noch solche Gesichter gab.
Wir wurden durch die Menschenmenge geführt. Eine massige Frau in den Fünfzigern ging mit kraftvollen, raumgreifenden Schritten vor uns her. Ihre kräftigen Arme schwangen vor und zurück und sie ging in sicherer, aufrechter Haltung. An den zusammengerückten Tischen angekommen, blieb sie stehen und drehte sich um. Wir stellten unsere Taschen ab und positionierten uns neben ihr.
»Ruhe! Alle mal herhören«, schrie sie mit voluminöser Stimme in den Saal. Schlagartig kehrte Ruhe ein und alle schauten in unsere Richtung. »Das sind die Herren Anwälte, die gekommen sind, um uns zu helfen. Am besten sind wir jetzt alle mal ruhig und hören zu, was sie uns zu sagen haben.«
Sie drehte sich zu uns und gab uns ein Zeichen, dass wir jetzt sprechen sollten. Mein Kollege machte einen vorsichtigen Schritt zurück, sodass ich nun allein vor der Menge stand. Alle Augenpaare waren auf mich gerichtet und drückten die große Hoffnung aus, dass ich nun etwas Hilfreiches sagen und ihnen in ihrer misslichen Situation Hoffnung geben würde. Anders als meinen anderen Mandanten ging es diesen Menschen nicht um die Verschleierung einer Straftat, sie wollten sich nicht irgendwie aus einer Verantwortung stehlen - diesen Menschen ging es um ihre Existenz und ihre Zukunft. Diese Menschen setzten ihre Hoffnungen in uns.
Im Studium habe ich mir einen solchen Fall immer gewünscht, und nun hatte ich weiche Knie. Ich räusperte mich leise und begann mit meinen Ausführungen. Ich erzählte etwas über die Verfahren, die Drei-Wochen-Frist und die Klageerhebung gegen den Arbeitgeber. Plötzlich hob ein älterer Mann die Hand. Er hatte graues Haar und ein tief gefurchtes, von Arbeit gezeichnetes Gesicht.
Unsere resolute Versammlungsleiterin zeigte in seine Richtung. »Hast du eine Frage oder was ist?«, rief sie durch den Raum.
»Ja, eine wichtige sogar«, antwortete der ältere Mann in ruhigem Ton. »Ich wollte nur wissen, ob die Klage die einzige Möglichkeit ist, gegen den Verlust des Arbeitsplatzes vorzugehen.«
»Ja, nur eine Klage kann das verhindern. Und das auch nur, wenn sie innerhalb einer Frist von drei Wochen beim zuständigen Arbeitsgericht eingereicht wird«, antwortete ich.
»Keine andere Chance?«
»Nein, tut mir leid.«
»Gut, dann bin ich raus. Wir haben gegen die doch sowieso keine Chance. Ich möchte nicht vor Gericht, das wird mir alles zu viel.« Der ältere Mann erhob sich und ging zum Ausgang des Saals. Kurz vor der Tür blieb er stehen und dreht sich noch einmal um. »Euch, die ihr diesen Schritt geht, wünsche ich alles Gute und viel Erfolg. Vergesst mich nicht.« Dann ging er wortlos durch die Tür, die langsam nachschwang, als wolle sie seine Spur verwischen.
Wir fuhren mit dem nächsten Tagesordnungspunkt fort und teilten einen Fragebogen aus. Dort waren alle Fragen gestellt, die man zur Vorbereitung einer Klage braucht. Jeder der Anwesenden füllte einen Fragebogen aus, dann sammelten wir die Bögen wieder ein. Die zusätzlichen notwendigen Unterlagen wie Arbeitsvertrag und Kündigung wollte die ebenfalls im Raum anwesende und vor dem Verlust des Arbeitsplatzes stehende Personalleiterin zusammenstellen und in geordneter Form an uns direkt in die Kanzlei geben. Auch wenn sie früher die Interessen der Geschäftsführung vertreten hatte, begriff sie in der konkreten Bedrohungssituation doch, wo sie eigentlich hingehörte. Da wir alles besprochen hatten, fuhren wir zurück
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