Anklage
Menschenhandel -, ist nicht straffrei. Und zudem ist die hiesige Staatsanwaltschaft noch nicht ganz auf die neue Linie eingeschwenkt, die dieses Gesetz vorgibt. Auch wenn einige Vorschriften im Strafgesetzbuch durch dieses Gesetz geändert wurden, könnte man meinen, in der Staatsanwaltschaft hätten sie es noch nicht gelesen.« Das war vielleicht etwas überzogen dargestellt, aber mit diesem Versuch eines Witzes, den ich mit einem ironisch-amüsierten Gesichtsausdruck untermalte, wollte ich die angespannte Situation entschärfen und die Aggression meines Mandanten dämpfen. Es funktionierte nicht wirklich. Mein Mandant blieb grimmig.
»Und was hat es dann mit diesen Sperrbezirken auf sich, da habe ich doch auch noch was im Haftbefehl gelesen«, fragte er giftig.
»Die Sperrbezirke sind eine hiesige Besonderheit, sie werden in diesem Bundesland strenger gehandhabt als anderswo. Hier gilt eine Verordnung, die es Gemeinden unter fünfzigtausend Einwohnern erlaubt, Prostitution an sich nicht zu gestatten, und die größeren Städten das Recht gibt, Prostitution nur in bestimmten Gebieten zu erlauben. Wer dann der Prostitution in einem nicht zugelassenen Gebiet nachgeht, zahlt eine Strafe. Das gilt auch, wenn man zum Beispiel Besuch einer Prostituierten im Hotel oder zu Hause bekommt. Findet das nicht im erlaubten Bezirk statt, kostet es eben Strafe. Und Sie müssen wissen, dass es keine Bezirke im eigentlichen Sinne sind, sondern nur kleine Bereiche oder auch nur Teile einer Straße. In Ihrem Fall aber wird das nicht weiter ins Gewicht fallen, da geht es vorwiegend um den Vorwurf des Menschenhandels.« Mein Mandant hatte nun eine kompakte Erläuterung der Rechtslage bekommen und musste feststellen, dass es für ihn doch nicht so gut aussah, wie er gedacht hatte. Er saß mit finsterem Gesicht am Besprechungstisch und zerknüllte die Kopien. Ich beendete die Besprechung und fuhr zurück in die Kanzlei.
21
Mein Kollege hatte im Fall der Belegschaftsentlassung begonnen, die Klagen zu entwerfen und an die einzelnen Mitarbeiter anzupassen, während ich mich meinen anderen Mandaten widmete. Dann rief uns der Chef wieder zu einer Besprechung in dieser Sache zusammen. Gerade wollte ich in sein Zimmer gehen, als mein Telefon klingelte.
»Ein Redakteur einer Zeitung, er sagt, es gehe um die Betriebsstilllegung«, informierte mich die Sekretärin.
»Danke, stellen Sie ihn durch und sagen Sie bitte dem Chef, dass ich sofort nach dem Telefonat komme.«
Ich übernahm das Gespräch. Der Anrufer stellte sich tatsächlich als Redakteur vor und gab mir einen Internetlink, sodass ich seine Angaben überprüfen konnte.
»Sie vertreten doch alle Mitarbeiter des Betriebs?«, fragte der Redakteur.
»Ja, um was geht es denn?«
»Mir wurde zugetragen, dass einer der Mitarbeiter Ihnen das Mandat nicht erteilt hat.« Der Redakteur spielte offensichtlich auf den älteren Mann an, dem der Prozess zu viel war.
»Das stimmt. Aber was hat das Ganze mit unserer Kanzlei zu tun, denn wir vertreten ihn ja gerade nicht?«
»Lassen Sie es mich mal so sagen: Den vertritt keiner mehr. Er hat sich gestern vor einen Zug geworfen. In einem Abschiedsbrief, den er hinterlassen hat, entschuldigt er sich, nicht mit den anderen für den Erhalt der Arbeitsplätze kämpfen zu wollen. Darüber wollte ich Sie nur informieren, denn die Leute im Betrieb sagten mir, Sie würden engagiert für sie eintreten und die Sache scheine Ihnen wirklich am Herzen zu liegen.«
Wir beendeten das Gespräch mit den üblichen höflichen Floskeln. Ich war geschockt. Der ältere Mann hatte einfach aufgegeben,
weil er keinen Ausweg mehr gesehen hatte. Ich ahnte ja nicht, was noch auf mich zukommen sollte.
Blass ging ich ins Büro des Chefs, wo mein Kollege schon eifrig seine Klageentwürfe vorstellte, und berichtete ohne große Einleitung von dem Mann, der sich das Leben genommen hatte.
Der Chef blickte kurz auf. »Na wenigstens haben wir kein Mandat verloren. Auch wenn das schlimm ist für seine Familie, lassen Sie uns bitte hier weitermachen.«
Während der folgenden Besprechung war ich nicht bei der Sache, sondern musste immer wieder daran denken, welche katastrophalen Folgen ein Arbeitsplatzverlust für die Mitarbeiter haben konnte. So realisierte ich nicht, welches Ziel der Chef in diesem Fall verfolgte. Die Kanzlei war als eigenständiger Teilnehmer an dieser Auseinandersetzung involviert, mit eigenen Interessen und eigenen Zielen. Schließlich sind Kanzleien in den
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