Anklage
meisten Fällen Unternehmen, die am Wirtschaftsleben deswegen teilnehmen, um den größtmöglichen Gewinn zu erzielen. Und so verfolgte die Kanzlei die Taktik, nur die solventen oder besser gesagt rechtsschutzversicherten Mandanten zu vertreten und die anderen, die sich keinen Prozess leisten konnten und auf staatliche Prozesskostenhilfe angewiesen waren, ihrem Schicksal zu überlassen. Die Information, wer rechtsschutzversichert war oder solvent genug für eine Vertretung durch uns, ergab sich aus dem Fragebogen.
Bei einer Prozesskostenhilfe, die vom Staat übernommen wird, bekommen die Anwälte für die gleiche Arbeit ein geringeres Honorar. Deswegen lehnen viele Anwälte - zumindest die, die es sich leisten können - Mandate mit Prozesskostenhilfe ab. Diese Vorgehensweise ist wirtschaftlich gesehen konsequent, denn Anwälte haben keine Verpflichtung, einen Mandanten zu vertreten, und auch keine Notwendigkeit, eine Ablehnung ausführlich
zu begründen. Andere Anwälte, deren Kanzlei nicht so gut läuft, sind dagegen auch über diese schlechter bezahlten Mandate froh. Was für die Mandate mit Prozesskostenbeihilfe gilt, gilt auch für Pflichtverteidigungen, die unter Anwälten verpönt sind. Zumindest unter denen, die ich kannte und die gut waren. Pflichtverteidigungen warfen gemessen am Aufwand bei Weitem nicht genügend ab, um in der Eliteliga der Anwälte mitspielen zu können. Und in die Eliteliga wollen die meisten. Anwälte, die sich um Pflichtverteidigungen bewarben, weil sie aus wirtschaftlichen Gründen darauf angewiesen waren, gaben das natürlich nicht zu.
So saß ich also wortlos und unkonzentriert da, während mein Chef und mein Kollege die Vorgehensweise unseres Falls besprachen. Den älteren Mann, der glaubte, keine Kraft mehr zum Weiterkämpfen und zum Weiterleben zu haben - ich bekam ihn nicht aus meinem Kopf.
Als ich die Besprechung verließ, fiel mir ein Stapel Akten im Sekretariat auf. Es waren Akten der gekündigten Mitarbeiter, aber nur von einem Teil der Belegschaft. Ich fragte die Sekretärin was damit geplant sei.
»Die soll ich zurückschicken«, antwortete sie.
»Alle?«
»Ja. Alle. Können wir irgendwie nicht übernehmen. Begründung habe ich keine bekommen, nur die Anweisung, sie zurückzuschicken.«
»Ich werfe lieber noch mal einen Blick drauf. Ich nehm sie mal mit.«
»Aber ich soll doch …«, warf die Sekretärin wieder ein.
Doch ich hatte den Aktenstapel schon geschnappt und schleppte ihn in mein Büro. Bestimmt konnte mein Kollege nicht alle Klagen fristgerecht fertigen, dachte ich, und gab deshalb einen Teil zurück. Eigentlich hätte er sie ja mir geben können, aber wahrscheinlich
wollte er meine Kapazitäten nicht unnötig binden, schließlich hatte ich ja noch andere, strafrechtliche Mandate zu bearbeiten. »Wir sollten die Mitarbeiter nicht im Stich lassen und alle vertreten. Das gibt uns schließlich auch eine bessere Verhandlungsposition gegenüber dem Arbeitgeber«, überlegte ich mir, als ich mich bereits in die erste Akte einlas.
Hätte ich in der Besprechung zugehört, dann hätte ich gewusst, weshalb diese Akten hätten zurückgeschickt werden sollen: Das waren die wirtschaftlich schwachen Mandate, die auf die staatliche Prozesskostenhilfe angewiesen waren. Und genau die bearbeitete ich jetzt entgegen der Entscheidung der Kanzlei. Doch in diesem Moment war ich wieder der idealistische Jurastudent von früher, der sich für die Gerechtigkeit und für die Schwachen einsetzt. Beschwingt diktierte ich die Klagen der vermögenslosen Mitarbeiter. Ich genoss dieses Gefühl und fühlte mich richtig gut. Wenigstens so lange, bis ich zur nächsten Besprechung mit meinem Mandanten im Fall der Zwangsprostitution musste.
22
Bald darauf saß ich wieder in der Besprechungszelle der Justizvollzugsanstalt und wartete, bis man meinen Mandanten zu mir ließ. Er setzte sich mir gegenüber und fragte ohne seine Zeit für eine Begrüßung zu verschwenden direkt nach meiner weiteren Vorgehensweise. Er verhielt sich, als dachte er, er könne mit mir, seinem Anwalt, genauso umgehen wie mit einem seiner Helfershelfer; mit jemandem, von dem er sicher sein konnte, dass er auf seiner Seite war, weil er auf ihn als Geldgeber angewiesen war. Diese Situation ekelte mich an, und dennoch fühlte ich mich zu diesem Zeitpunkt machtlos, etwas dagegen zu unternehmen.
War ich tatsächlich auf das Geld dieses Mannes angewiesen?
Wie jeder andere stand ich unter dem Druck der wirtschaftlichen
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