Anlass
Gedanke, daß Zaleshoff vielleicht mit den Koffern ertappt worden war oder daß der Eigentümer ihn mit seinem Hut und Mantel gesehen und Alarm geschlagen hatte, wurde mir zur Zwangsvorstellung. Der Zug hielt schon fast, und ich hörte die Bahnhofsglocke läuten und Menschen den Gang entlang gehen, als es dreimal schwach an das Metallschild der Tür klopfte.
Ich schob sie auf und fiel fast über eine Reisetasche, die knapp davor stand. Zaleshoff stand bei der Ausgangstür, aber im ersten Augenblick erkannte ich ihn nicht. Er trug einen dunkelgrünen Mantel mit grünem Lodenhut, aber am meisten verändert war sein Gesicht. Es war glatt rasiert, aber die Form des Gesichtes war anders. Es war runder. Seine Oberlippe stand merkwürdig über die Unterlippe vor.
Er reichte eben einem Träger einen Handkoffer hinunter. Dann drehte er sich kurz nach mir um und sah mir in die Augen. Er deutete mit einem Blick auf die Reisetasche zu meinen Füßen. Im nächsten Moment war er weg. Ich nahm die Reisetasche und ging zur Tür.
Ein zweiter Träger stand auf dem Bahnsteig und sah mich erwartungsvoll an. Die Tasche war schwer; ich faßte das Geländer und schwang sie hinaus, damit er sie in Empfang nehmen konnte. Im nächsten Augenblick aber hätte ich sie fast auf seinen Kopf fallen lassen. Zu beiden Seiten des Trägers standen Milizsoldaten und schauten zu mir herauf.
Ich konnte nur eine Zehntelsekunde gezögert haben, aber mein Hirn arbeitete in diesem Sekundenbruchteil wie rasend. Beide hielten Mauserpistolen in der Hand, und ich wußte, daß es sinnlos war, umzukehren. War Zaleshoff durchgekommen oder hatten sie ihn auch erwischt? Ich fühlte, wie mir der Schweiß aus allen Poren trat.
Der Träger ergriff die Tasche, und ich schwang mich auf den Bahnsteig hinunter. Dann ereignete sich das Unglaubliche. Ich sah den Milizsoldaten ins Gesicht. Sie sahen mich aber nicht an, sondern schauten an mir vorbei in den Zug. Ich zögerte einen Moment und wollte meinen Augen nicht trauen.
»Wohin soll’s denn gehen, Signore?« fragte der Träger.
Ich stand noch immer mit offenem Mund da, dann riß ich mich aber zusammen. »Zur Gepäckaufbewahrung«, sagte ich.
Meine Beine zitterten, als ich ihm über den Bahnsteig folgte. An jeder Wagentür waren zwei Milizsoldaten postiert. Als der letzte der aussteigenden Passagiere den Dritter-Klasse-Wagen verließ, sah ich zwei von ihnen, von einem Offizier begleitet, den Zug besteigen. Köpfe fuhren aus den Fenstern. Die anderen Passagiere hatten gemerkt, daß etwas los war.
Vor mir sah ich Zaleshoff, dem sein Träger vorausging, durch den Ausgang zur Straße verschwinden. Dort standen noch drei Milizsoldaten. Ich ging weiter. Ich dachte an nichts anderes als an meine Stiefel. Sie schienen so viel Lärm zu machen wie ein Regiment auf dem Marsch. Bei jedem Schritt auf dem Asphalt dröhnte es hohl. Zum erstenmal bemerkte ich, daß einer von ihnen knarrte. Um mich auf andere Gedanken zu bringen, überlegte ich, was zu tun wäre, wenn der Besitzer der Reisetasche, die der Träger trug, sie von einem Fenster des Zuges erkannte. Es war ein großes, teuer aussehendes Stück und leicht zu erkennen. Sollte ich laufen oder versuchen, weiter zu bluffen? Besser nicht. Denn dann würden sie meinen Akzent bemerken. Sie würden meinen Paß sehen wollen, sie …
Aber ich näherte mich schon dem Ausgang. Jetzt waren nur mehr ein paar Meter zu gehen. Ich konnte die Gesichter der Milizsoldaten sehen, die mir zugekehrt waren. Ich war ganz sicher, daß einer von ihnen auf meine Stiefel schaute. Ihre Gesichter kamen näher, und in meiner Panik konnte ich nicht mehr unterscheiden, ob ich auf sie zuging oder sie auf mich, um mich zu verhaften. Instinktiv änderte ich leicht meine Richtung, um den Träger zwischen sie und mich zu bringen. Er ging an ihnen vorüber. Ich fühlte, wie sich meine Waden anspannten, während ich weiterging. Die Milizsoldaten starrten mich an; ich war fast neben ihnen. Ich konnte Einzelheiten ihrer Uniform sehen, die Webart des schwarzen Tuches, die Form der Revolvertasche aus schwarzem Leder, den glänzenden Messingbeschlag, der sie verschloß. Ich wartete auf den schwarzen Arm, der sich ausstrecken würde, um mich aufzuhalten. Ich beschloß, die Farce zu Ende zu spielen und empört zu tun. Mein Gesicht nahm instinktiv einen indignierten Ausdruck an. Eine Sekunde später war ich an ihnen vorüber.
Im ersten Augenblick konnte ich gar nicht an mein Glück glauben. Ich ging weiter und
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