Anlass
dann auf ihn.
»Es war sehr freundlich von Signor Maurer«, sagte sie. Dann wurde sie von einem Schluchzen geschüttelt. Sie nahm ihr Taschentuch und hielt es sich vor die Augen. Nach einigen Augenblicken gewann sie ihre Stimme zurück.
»Er war so glücklich an der Universität. Die Vorlesungen waren sein Leben. Dann nahmen sie ihm das weg. Er hat sich nie für Politik interessiert, aber als man die Bücher eines seiner Kollegen verbrannte, wandte er sich gegen die Faschisten. In einer Vorlesung am nächsten Tag sagte er, daß die ganze Wissenschaft ohne geistige Freiheit absterben würde, und er kritisierte die Regierung, weil sie die Universitäten bevormunde. Einer seiner eigenen Studenten denunzierte ihn. Er wurde auf Grund des Gesetzes von 1925 wegen Kritik an Mussolini verhaftet. Er mußte zweitausend Lire Strafe zahlen, und er sollte eine Erklärung unterschreiben, daß er den Faschismus als die ›heilige Religion‹ jedes Italieners anerkenne. Er bezahlte die Strafe, weigerte sich aber, die Erklärung zu unterschreiben. Auf Befehl der Polizei wurde er von der Universität verwiesen und bekam Lehrverbot für ganz Italien. Mit vierundvierzig Jahren wurde ihm der Ruhestand aufgezwungen.«
Dann fuhr sie zögernd fort.
»Ich denke manchmal, es wäre besser gewesen, wenn er, wie so viele seiner Kollegen, auf die Strafinseln geschickt oder gezwungen worden wäre, ohne Geld in ein anderes Land zu flüchten. Dann wäre ihm wenigstens dieses Grauen erspart geblieben. Aber er hatte etwas Geld, und es schien am besten, zu bleiben. Die ersten beiden Jahre waren die schlimmsten. Es war ein schrecklicher Schock für ihn. Er kam aus dem Grübeln nicht heraus. Er war krank und konnte nicht schlafen. Er fragte mich oft ganz verwirrt, warum er nicht arbeiten dürfe. Als man die Herausgabe der neuen italienischen Enzyklopädie aufgeben mußte, weil nicht genug geeignete Pro-Faschisten da waren, um sie fertigzustellen, lachte er und erzählte es allen Leuten, so daß ich ständig Angst hatte, daß wir verhaftet würden. Als er dann an die Arbeit ging, von der er mit Ihnen sprach, schien er ruhiger zu werden. Erst an dem Tage, als er sich so sehr über seinen Kollegen aus Rom aufregte, wurde mir klar, was geschehen war und daß – daß er diese Neurose hatte. Sein Freund war sehr gütig. Wir beide überredeten ihn, in ein Sanatorium zu gehen. Dort sagten sie, man könne nichts für ihn tun. Meine Mutter war bei meiner Geburt gestorben. Er hatte nur mich, und ich fand bald heraus, daß er glücklich war, wenn er glaubte, arbeiten zu können. Das ist alles. So sind wir hierhergekommen.«
Sie stand auf. Sie schien sich wieder in der Gewalt zu haben. Ihr Gesicht war ausdruckslos. Wir waren bloß wieder Fremde, die für die Nacht ein Quartier bekamen.
»Hoffentlich sind die Sessel nicht allzu unbequem«, sagte sie. »Ich werde Ihnen diese Lampe hier lassen. Mit diesem kleinen Rädchen dreht man sie aus. Ich glaube, es ist genug Holz auf dem Feuer. Wenn Sie sich waschen wollen, können Sie das im Waschraum auf der anderen Seite des Korridors tun. Sobald es hell wird, werde ich Sie wecken. Gute Nacht, Signori.«
Wir sagten gute Nacht, und sie ging und schloß die Tür hinter sich. Zaleshoff ging zum Fenster und sah durch die Löcher in den Läden.
»Es hat aufgehört zu schneien«, sagte er. »Man kann die Sterne sehen.« Dann löschte er die Lampe aus. Beim Schein des Feuers sah ich ihn zu seinem Stuhl zurückkehren.
»Zaleshoff, ich kann nicht verstehen, wie sie mich erkannt hat.«
Er brummte. »Haben Sie sich ihre Zeichnungen an der Wand angeschaut?«
»Nein. Warum?«
»Sie hat Augen, die die Knochen und Muskeln sehen. Es braucht mehr als Koteletten und einen Schnurrbart, um diese Frau zu täuschen.«
»Jetzt versteh ich.« Einen Augenblick beobachtete ich noch ein Holzscheit, das aufflammte und zischte, als die Glut es erreichte. Ich wollte noch etwas sagen, wußte aber nicht wie.
»Sie haben das gut gemacht mit dem alten Herrn«, sagte er.
»Ich bin mir wie ein Dieb vorgekommen.« Es mag der Rauch des Holzfeuers gewesen sein, daß mir plötzlich die Augen brannten. »Mein Gott, Zaleshoff, was für eine Tragödie. Ein Mann wie dieser wahnsinnig.«
»Ja.« Er drehte sich in seinem Sessel und zog sich die Decke enger um die Schultern. Für einen Moment herrschte Schweigen, und ich glaubte, er sei eingeschlafen. Dann sagte er leise, ganz so, als rede er zu sich selber:
»Gewiß! Das ist richtig. Was für eine
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