Anlass
geöffnet worden. Der unbekannte Zensor hatte sich offenbar Claires Postscriptum zu Herzen genommen.
Der andere Brief war am selben Nachmittag in Mailand aufgegeben. Das Kuvert enthielt einen schmalen Papierstreifen mit einem einzigen Satz in Maschinenschrift: MORALISCH GESPROCHEN SCHULDEN SIE MIR EIN STUECK SEIFE !
Das war alles. Keine Unterschrift.
6. Kapitel
Entrechat
A
m nächsten Abend um halb neun stellte ich mich in der Oper ein.
Madame Vagas war eine schlanke, imponierende Frau mit ergrauendem schwarzem Haar, kleinen verhärmten Augen und einem Ausdruck, als kämpfe sie beständig gegen eine unüberwindliche Müdigkeit. Um ihre Mundwinkel lag ein abgespannter Zug, die Bewegungen ihrer Hände waren fahrig und ungeschickt, als ob sie sie ständig kontrollieren müßte.
Im Vorraum seiner Loge stellte der General mich ihr vor. »Meine Frau, Mr. Marlow«, sagte er. Ich hatte eine Verbeugung gemacht, und nun sahen wir uns an, während ein Kellner Kaviarbrötchen präsentierte und eine Flasche Asti Spumante öffnete.
Sie musterte mich einen Moment und fragte dann: »Lieben Sie das Ballett, Mr. Marlow?«
Sie sprach ein breites, gutturales Italienisch. Sie schien sich die Worte von den Lippen abzuzwingen. Mich erinnerte diese Art zu sprechen unwillkürlich an jemand, der eben einen Schlag auf den Solarplexus erhalten hat.
Der General antwortete für mich.
»Signor Marlow ist ein Verehrer des Balletts, liebe Elsa. Sonst hätte ich ihn nicht gebeten, uns hier Gesellschaft zu leisten.« Er lächelte sie etwas boshaft an. Im abgedämpften Licht des Vorraums war seine Schminke weniger auffallend als bei unserer ersten Begegnung, aber der Rand seines steifen Kragens war dort, wo er mit seinem Nacken in Berührung kam, schon voll Fett und bräunlichem Puder. Jetzt wandte er mir sein Lächeln zu. »Wie gefällt Ihnen Mailand, Signor Marlow?«
»Ich kann nicht behaupten, daß ich bisher viel davon gesehen habe. Die letzten paar Tage war ich in Genua. Ich bin erst gestern zurückgekommen.«
»So? Ein Glas Champagner?«
»Danke.«
»Sie müssen Genua sehr langweilig gefunden haben.« Er wandte sich seiner Frau zu. »Elsa, erinnerst du dich, daß wir uns in Genua unsäglich gelangweilt haben?«
Sie nahm ihr Glas Asti. »Das ist die Stadt mit dem großen Friedhof, nicht wahr, Signor Marlow?« Ihre Augen glitten über mich hin. Ich hatte das Gefühl, daß meine Fliege schief saß. Nur mit Mühe vermied ich es, danach zu greifen.
»So hab ich gehört.«
Vagas lachte höflich. »Ich vermute, Signor Marlow hatte nicht viel Zeit für Friedhöfe. Warten Sie«, fügte er hinzu, »der arme Ferning erwähnte zuweilen die Grigori-Sforza-Werke in Genua. Hatten Sie vielleicht …«
»Ja, ich habe die Grigori-Sforza-Werke besucht.«
Er wandte sich plötzlich um und sagte etwas auf deutsch zu Madame Vagas. »Ich bitte um Entschuldigung«, fuhr er zu mir gewandt fort, »ich erklärte eben meiner Frau, daß Sie Herrn Fernings Nachfolger sind.« Er setzte sein Glas nieder. »Mir scheint, die Ouvertüre ist beinahe vorbei. Wollen wir hineingehen?«
Das erste Ballett war Lac des Cygnes . Von meinem Platz aus sah ich Vagas’ Kopf sich deutlich von dem starken Licht der Bühne abheben. Fast gegen meinen Willen wanderten meine Augen immer wieder vom hin- und herhuschenden Corps de Ballet zu seinem Gesicht. Mit dem Aufgehen des Vorhangs hatte sich sein Ausdruck verändert. Seine Lippen waren halb geöffnet, er atmete langsam und tief. Er schluckte alle Augenblicke und räusperte sich. Es war, als ob man einen Schlafenden vor sich hätte. Er schien ganz abwesend zu sein, wie in einen Traum versunken. Hinter ihm im Schatten konnte ich Madame Vagas sehen, das Gesicht ein grauer Fleck gegen den Logenvorhang, der Körper bewegungslos. Ich blickte ins Parkett hinunter, auf die Reihen weißer, stiller Gesichter. Es war, als ob sie Tote wären und nur die Gestalten auf der Bühne lebten. Ein grünes Licht flackerte in den Kulissen auf, und der Prinz stelzte, Angst und Entsetzen mimend, zurück, sein Körper steif, während seine lächerliche Armbrust mit den Stakkatobewegungen seiner Arme mitzitterte. Ich sah, wie der General sein Taschentuch zog und sich die Lippen betupfte. Frau Vagas gähnte. Die Gesichter drunten rührten sich nicht. Das Ballett erreichte den Höhepunkt. Endlich fiel der Vorhang. Donnernder Applaus. Der Vorhang hob sich, fiel und hob sich wieder. Verbeugungen. Blumensträuße wurden auf die Bühne getragen. Der Prinz
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