Anlass
seit der Mensch von den Bäumen heruntergestiegen ist. Ballett ist nur die Rationalisierung der instinktiven Neigung einer Gesellschaft nach Selbstzerstörung. Ein Totentanz für die gadarenischen Schweine. So ist es immer gewesen. Katharina von Medicis Hofkomponist, Baltazarini, erfand das Ballett, wie wir es heute kennen. Es ist der Prophet des Untergangs geblieben. In den Jahren vor dem Weltkrieg hat es mehr Zuschauer angezogen als je. In den frühen zwanziger Jahren, im Zenit von Diaghilevs Wirken, wurde es mehr und mehr zu einem Vergnügen für Esoteriker. Heute ist das Ballett wieder populär. Auch wenn ich nie Zeitung läse, Mr. Marlow, so würde mir ein einziger Abend im Ballett zur Erkenntnis genügen, daß sich unsere Gesellschaft erneut auf ihren Tod vorbereitet.«
Madame Vagas erhob sich. »Wenn Signor Marlow mich entschuldigt, möchte ich zu Bett gehen.«
Vagas sah ärgerlich aus. »Du weißt doch, liebe Elsa, daß du unter Schlaflosigkeit leidest.«
»Ich fürchte, ich bin zu lange geblieben«, sagte ich rasch.
»Durchaus nicht, Signore. Es ist noch sehr früh. Mein Mann wird Ihnen bestätigen, daß ich mich immer sehr früh zurückziehe.«
»Gute Nacht und herzlichen Dank, Madame.«
»Es war mir ein Vergnügen, Ihre Bekanntschaft zu machen, Signore. Gute Nacht.«
Sie reichte mir die Hand.
Unsicher, ob ich sie schütteln oder küssen sollte, berührte ich sie nur leicht und verbeugte mich.
Im nächsten Augenblick fühlte ich, daß ein kleines Stückchen Papier fest in meine Handfläche gedrückt wurde. Meine Finger schlossen sich darüber. Sie zog ihre Hand zurück und ging, ohne mich noch einmal anzublicken.
Der General seufzte.
»Ich muß mich entschuldigen, Mr. Marlow. Meine Frau fühlt sich im Augenblick nicht sehr wohl. Ein nervöses Leiden. Gespräche über den Tod deprimieren sie.«
Ich verbarg den Zettel in meiner Westentasche.
»Das tut mir leid.«
Ricciardo wartete im Hintergrund.
»Stelle Kaffee und Cognac ins Nebenzimmer, Ricciardo. Dann kannst du zu Bett gehen.«
»Si, Eccellenza.«
Wir gingen ins anstoßende Zimmer. Ein Holzfeuer, das im Kamin brannte, warf lange Schatten über die dunklen Vorhänge. Eine der Wachskerzen machte ein knisterndes Geräusch. Ich wollte weg. Ich war müde. Der General und sein Haus gingen mir auf die Nerven. Das Stück Papier in meiner Westentasche ließ mir keine Ruhe. Möglich, daß der General gesehen hatte, wie seine Frau es mir zusteckte. Dann …
»Cognac, Mr. Marlow?«
»Bitte.«
Es war offenbar irgendeine Mitteilung. Was zum Kuckuck konnte …?
»Eine Zigarette?«
»Danke.«
»Dieser Stuhl ist bequem.«
»Danke.«
Er setzte sich mir so gegenüber, daß sein Gesicht im Schatten und meines vom Feuer beleuchtet war. Ein alter Trick, aber er trug nicht gerade dazu bei, daß ich mich behaglich fühlte.
Er lehnte sich genießerisch zurück. »Werden Sie im Parigi bleiben, Mr. Marlow?«
»Ich glaube nicht. Ich lebe nicht gern in Hotels.«
»Wer tut das auch? Warum übernehmen Sie nicht Fernings Wohnung? Sie ist reizend.«
»Ja, aber leider muß ich etwas weniger Kostspieliges finden.«
Er nickte. »Ich verstehe. Weniger kostspielig, weniger reizend, weniger komfortabel, weniger von allem.« Er stand plötzlich auf, als wäre er zu einem Entschluß gekommen. Dann sah er auf mich herab. »Darf ich aufrichtig sein, Mr. Marlow?«
Jetzt kam es! Überrascht stellte ich fest, daß mein Herz gegen die Rippen hämmerte. Es war dumm von mir, feig, wenn man will, aber ich hatte Angst. Ich mußte meine Stimme zur Ruhe zwingen, um ihr einen Tonfall leichter Überraschung zu geben.
»Aber gewiß, General.«
»Mein Besuch neulich hatte nicht rein gesellschaftlichen Charakter.«
Ich brachte ein neutrales »Ich verstehe« hervor.
»Ich möchte mit Ihnen etwas Geschäftliches besprechen«, fuhr er fort.
»Ich bin immer bereit, für meine Firma Geschäfte zu besprechen, General.«
»Ja, natürlich.« Er machte eine Pause. »Aber dies ist eine persönliche Angelegenheit. Sie verstehen. Ich bin kein Geschäftsmann« – er machte eine wegwerfende Bewegung mit der Hand – »aber ich habe meine Interessen. Sie erwähnten die Wohnungsfrage. Ferning war, wie ich mich erinnere, ungefähr in derselben Lage wie Sie. Es war eine einfache Geldfrage. Nichts weiter. Ich konnte ihm einige private Geschäfte verschaffen, die alles regelten. Ich kann dasselbe für Sie tun.«
Ich murmelte ein paar Worte, daß das sehr liebenswürdig von ihm sei.
»Durchaus
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