Anlass
steilen Damm zwischen gepflügten Feldern dahin. Wieder blickte ich auf den vorbeisausenden Boden. Dann sah ich, wie Zaleshoff die Hand auf die Türklinke legte. Es war Wahnsinn, sagte ich mir. Wahnsinn! Wir würden uns beide unsere Arme und Beine brechen, oder wir würden unter die Räder des Gepäckwagens hinter uns geschleudert und zerfetzt werden. Plötzlich war unter uns ein schabendes Geräusch.
»Die Bremsen«, sagte Zaleshoff. »Kommen Sie. Es ist besser, wenn Sie zuerst springen.«
Er öffnete die Tür, und das Getöse des stählernen Waggons schien sich plötzlich im pfeifenden Wind zu verlieren.
»Runter mit Ihnen«, sagte Zaleshoff. »Schnell!«
Ich blickte hinunter. Unter mir waren vier Stufen, dann der Damm. Ich hielt mich am Geländer fest und stieg drei Stufen abwärts. Der Wind riß an meinem Hut. Mit der freien Hand drückte ich ihn über die Ohren herab. Dann schwang ich mich in die Fahrtrichtung. Jetzt, wo sie in die Kurve einbog, konnte ich die Lokomotive sehen. Der Rauch drang in einer langen Fahne aus dem Schornstein. Der Boden unter mir schien sich in rasendem Tempo fortzubewegen. Mir wurde plötzlich schwindlig, und ich stieg eine Stufe zurück. Ich sah auf. Ich mußte den Wind überschreien.
»Es hat keinen Zweck, Zaleshoff, ich …«
Aber er verstand mich nicht. »Reden können wir später«, schrie er. »Vorwärts!«
Er stieg jetzt auf die Stufe über mir, und seine Knie preßten gegen meine Schulterblätter. Ich kletterte zur untersten Stufe hinunter. Jetzt konnte ich die Räder sehen, wie sie kreischend über die Schienen der Kurve rollten. Ich beobachtete sie fasziniert. Sie erinnerten mich unwiderstehlich an Speckschneidemaschinen. Als Junge hatte ich einmal mitangesehen, wie ein Mann sich mit einer solchen Maschine den halben Daumen abgeschnitten hatte. Öl tropfte aus einer der Schmierbuchsen. Etwas stieß mich scharf in den Rücken. Es war Zaleshoffs Zehenspitze.
»Hinaus!« brüllte er.
Ich richtete meinen Rücken gerade, beugte die Knie und streckte vorsichtig einen Fuß hinaus. Dann zögerte ich wieder. Nein, ich konnte es nicht. Wir fuhren zu schnell. Wenn der Zug etwas langsamer führe … aber er schien schon wieder Geschwindigkeit zu gewinnen. Dann stieß mich wieder Zaleshoff mit der Fußspitze. Ich schöpfte tief Atem, biß die Zähne zusammen und sprang.
Im nächsten Augenblick schlug der Boden mit erstaunlicher Kraft gegen meine Schuhsohlen. Ich fühlte, daß ich aufs Gesicht fallen würde und streckte zum Schutz die Arme aus. Meine Beine versuchten krampfhaft, sich der Geschwindigkeit des übrigen Körpers anzupassen, aber nicht lange. Im nächsten Augenblick stolperte ich. Gerade zur rechten Zeit erinnerte ich mich an Zaleshoffs Rat, mich ganz zu entspannen. Ich sah den Boden seitlich fortgleiten. Dann schlug ich auf den Rand des Bahndammes auf.
Der Anprall machte mich fast bewußtlos, und ehe ich mich halten konnte, rollte ich den Abhang des Bahndammes hinunter. Unten kam ich am Betonpfosten eines Stacheldrahtzaunes zum Stillstand. Dort blieb ich einige Augenblicke atemlos liegen. Dann stand ich bedächtig auf und begann mich abzuwischen. Zaleshoff kam etwa zwanzig Meter weiter vorn auf allen vieren schräg heruntergekrochen.
»Alles in Ordnung?«
Ich war noch außer Atem, konnte aber doch eine etwas zittrige Bestätigung herausbringen.
»Durch den Zaun«, keuchte er, als er, nach Atem ringend, aufstand. »Wir können uns beim Gehen saubermachen.«
»Was ist los?«
»Der Schaffner hat uns gesehen«, sagte er kurz, »das bedeutet, daß er den Vorfall in Brescia melden wird. Wir dürfen nicht nach Treviglio hinein.«
»Aber wo sollen wir denn hin?«
»Das werden wir sehen, wenn wir hinkommen. Vorwärts.«
Wir schlüpften durch den Zaun und gingen schweigend am Rand des gepflügten Feldes entlang. Die Sonne ging eben hinter den Bäumen am Horizont unter, als wir schließlich an eine Straße kamen. Wir wandten uns nach rechts, von Treviglio weg. Zwanzig Minuten später kamen wir in ein Dorf. Neben dem Postamt war ein kleines caffè-ristorante.
»Das wird gehen«, sagte Zaleshoff.
Wir gingen hinein und setzten uns an einen Tisch.
»Nun«, sagte ich, »was jetzt?« Ich war müde und mitgenommen.
»Wir essen jetzt und trinken miteinander eine anständige Flasche Wein, wenn sie einen haben. Dann werden wir weitersehen.«
Das Restaurant war klein und nicht allzu sauber. Es bestand aus einer Bar mit Zinkplatte und vier Marmortischen, über die weiße
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