Anlass
ein schlechtes Gewissen.
»Ich sehe nicht ein«, sagte ich bitter, »warum wir keine Fahrkarte von ihm kaufen konnten.«
»Sie werden morgen sehen, warum«, sagte er geheimnisvoll.
Dann bemerkte ich, daß er die Reisetasche nicht mehr hatte.
»Ich habe sie aus dem Fenster geworfen, als wir durch den Tunnel fuhren«, erklärte er.
»Ich verstehe nicht, wohin dies alles führen soll, Zaleshoff«, sagte ich. »Offen gesagt, ich bin sehr beunruhigt. Äußerst beunruhigt. Das beste ist wohl, ich steige in Brescia aus und telefoniere dem Konsulat in Mailand. Wenn wirklich Haftbefehl gegen mich ergangen ist, gewinne ich durch diese Torheiten nichts. Je eher ich mich mit dem Konsulat in Verbindung setze, desto besser.«
»Ja, wollen Sie denn unbedingt ins Gefängnis?«
»Natürlich nicht. Von Gefängnis kann gar nicht die Rede sein. Vielleicht werde ich eine Strafe zahlen müssen, möglicherweise eine hohe; dann wird man wahrscheinlich verlangen, daß ich in vierundzwanzig Stunden das Land verlasse. Alles sehr unangenehm, zweifellos, aber das ist auch das Schlimmste, was passieren kann. Ich bin doch schließlich ein britischer Staatsbürger und beim Konsulat bekannt. Und ich habe einen ziemlich guten Ruf. Ich …«
»Die britischen Behörden würden Ihnen bei einem gewöhnlichen Delikt – vom kleinen Diebstahl bis hin zum Mord – natürlich helfen. Aber eine Anklage wegen Spionage ist eine andere Sache. Die werden Sie wie eine heiße Kartoffel fallen lassen, sobald sie davon hören.«
»Aber Sie sagten doch selbst, daß die Anklage auf Bestechung lautet.«
»Bis man Sie hat. Dann werden Sie sehen, was geschieht.«
»Nun«, sagte ich angewidert, »selbst wenn Sie recht haben, sehe ich keinen Ausweg für mich.«
»Der einzige sichere Ort für Sie ist augenblicklich außerhalb des Landes, und da müssen Sie hin.«
»Sie scheinen zu vergessen, daß ich keinen Paß habe«, sagte ich kleinlaut.
»Das habe ich nicht vergessen.«
»Na und?«
»Ich sagte schon, wir werden später darüber reden.«
»Und inzwischen wird vermutlich …«
»Inzwischen«, unterbrach er mich, »beruhigen Sie sich und tun Sie, was ich Ihnen sage.«
Ich zuckte die Achseln. »Nun, das macht wohl nicht viel Unterschied.«
»Es macht einen großen Unterschied. Rauchen Sie eine Zigarette. Das wird Ihre Nerven beruhigen.«
»Meine Nerven sind ganz in Ordnung«, bemerkte ich giftig.
Er nickte ruhig. »Das ist gut. In einer Minute werden Sie sie nötig haben. Wir werden von diesem Zug abspringen, wenn er vor der Kurve bei Treviglio abbremst.«
Ich antwortete nicht. Es ging alles zu schnell für mich. Vor zwanzig Minuten war ich ein gelassener Engländer in leidlichem seelischem Gleichgewicht gewesen, der im Bewußtsein wohlverrichteter Arbeit heimkehrte. Ich hatte mich auf ein ruhiges Abendessen und ein paar Stunden im Kino gefreut. Ich hatte früh zu Bett gehen wollen, um ein neues Buch zu lesen. Jetzt flüchtete ich vor der italienischen Geheimpolizei, versteckte mich in Toiletten, betrog Schaffner und dachte daran, einen Zug in einer Weise zu verlassen, die ungesetzlich und gegen alles Herkommen war. Es kam alles viel zu plötzlich. Ich konnte mich nicht so schnell auf diese neuen und phantastischen Umstände einstellen. Ich fragte mich, ob ich vielleicht aufwachen und noch immer in Rom im Bett liegen würde, wenn ich mich energisch zwickte. Aber nein: da saß Zaleshoff, rauchte und schaute angespannt zum Fenster hinaus, und in meiner Tasche steckte ein Rasierapparat, eine ausrinnende Tube mit Rasiercreme und eine amerikanische Unterhose. Ich sah auf den Weg neben dem Bahndamm hinunter. Er war weit weg und sah sehr gefährlich aus. Der Zug fuhr zu schnell, als daß ich hätte sehen können, ob der Weg aus kleinen oder großen Steinen bestand. Es war bloß ein langer, flacher graubrauner Streifen. Mir schien, daß der Zug jetzt ein merkwürdig stampfendes Geräusch machte. Ich versuchte herauszufinden, woher es kam, und fand, daß es das Blut war, das in meinem Kopf hämmerte. Da wußte ich schlagartig, daß ich Angst hatte, wahnsinnige Angst.
Zaleshoff berührte mich am Arm.
»Wir fangen an, langsamer zu fahren. Noch eine Minute, dann steigen wir auf das Trittbrett hinaus und machen uns fertig. Vergessen Sie nicht, sich ganz locker fallen zu lassen, falls Sie sich nicht auf den Beinen halten können.«
Ich nickte wortlos und schaute wieder hinaus.
Mir schien, als fahre der Zug genau so schnell wie vorher. Er sauste jetzt über einen
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