Anlass
hielt, er solle ihn ebenfalls loslassen. Dann zeigte er auf die gegenüberliegende Wand des Büros. »Stellt euch dorthin. Alle beide.«
Wir gehorchten. Er musterte uns grimmig mit zusammengekniffenen Lippen. »Wer seid ihr?« fragte er plötzlich scharf, und dann, ohne uns Zeit zur Antwort zu lassen: »Was habt ihr in dem Wagen gemacht? Wißt ihr denn nicht, daß es verboten ist, in Güterwagen zu fahren? Ihr bemogelt den Staat. Ihr werdet eingesperrt werden.«
Man konnte darauf nichts antworten. Auf jeden Fall würde in dem Augenblick, in dem die Polizei mich sah, das Spiel verloren sein. Ich fand es ohnehin merkwürdig, daß ich noch nicht erkannt worden war nach all den Bildern in den Zeitungen. Vielleicht wegen des Hutes, Aber es war nur noch eine Frage der Zeit. Ich wünschte, daß es schnell ging. Vielleicht war es am besten, ich sagte ihnen selbst alles.
»Nun«, fauchte der Mann, »was habt ihr zu sagen?«
Dann trat zu meiner Überraschung Zaleshoff ein wenig vor.
»Wir taten nichts Böses, Signore«, sagte er weinerlich. »Wir versuchten nur, nach Padua zu kommen. Wir hörten, dort gibt es Arbeit, und wir hatten kein Geld. Übergeben Sie uns nicht der Polizei, Signore!«
Das nützte wenig. Zaleshoff mit seinem schmutzigen Gesicht und wild wuchernden Bart sah wie ein Schurke aus und gar nicht wie ein armer Teufel. Es überraschte mich nicht, daß der Vorarbeiter ihn hämisch ansah.
»Genug. Ich kenne meine Pflicht. Woher kommt ihr?«
»Turin, Signore. Wir wollten nur Arbeit suchen.«
»Zeigen Sie mir Ihre Identitätskarte.«
Zaleshoff zögerte. Dann sagte er schnell: »Ich habe sie verloren, Signore. Ich hab sie gehabt, aber sie ist mir gestohlen worden.«
Der Vorarbeiter unterbrach ihn mit einer Handbewegung und wandte sich zu mir.
»Zeigen Sie mir Ihre Identitätskarte.«
»Ich habe keine, Signore, ich …«
Der Mann lachte gereizt. »Kommen Sie auch aus Turin?«
Ich überlegte schnell. Jetzt war es an der Zeit, zu gestehen. Zaleshoff mußte gewußt haben, was in mir vorging, denn er hustete warnend. Ich zögerte.
»Antworten Sie!« sagte der Mann.
»Nein, Signore. Aus Palermo.«
Mein Italienisch war mit dem Zaleshoffs nicht zu vergleichen, und ich dachte, es wäre besser, eine Antwort zu geben, die meinen Akzent erklären würde.
»Ich verstehe.« Seine Lippen verkniffen sich. »Der eine aus Turin und der andere aus Palermo. Beide ohne Identitätskarte. Das ist ein klarer Fall für die Polizei.«
»Aber …«, winselte Zaleshoff.
»Ruhe!« Die Arbeiter hatten die Szene mit ausdruckslosen Gesichtern beobachtet. Jetzt wandte er sich ihnen zu. »Ihr beide bleibt hier und paßt auf, daß sie nicht zu flüchten versuchen, während ich mit dem Rangiermeister und der Polizei rede.« Er wandte sich dann dem dritten zu. »Geh zurück und schau nach, ob sie im Waggon Schaden angerichtet haben. Wenn alles in Ordnung ist, bindest du die Plane wieder richtig fest. Die Wagen gehen heute nach Verona weiter.«
Einen Augenblick später schloß sich die Tür, und wir waren mit unseren Bewachern allein.
Ein paar Sekunden starrten wir uns gegenseitig an.
Es waren zwei stämmige Kerle mit roten, fettbeschmierten Gesichtern; sie trugen schmutzige hellblaue Overalls und Mützen. Einer war in meinen Jahren, der andere mochte zehn Jahre älter sein. Er trug einen langen Schlosserhammer. Der Jüngere war, nach dem Zustand seiner Hände zu schließen, ein Wagenschmierer. Sie sahen beide sehr entschlossen aus. Es war klar, daß wir mit Gewalt nichts ausrichten konnten. Die beiden würden uns grün und blau schlagen.
Ich blickte auf Zaleshoff und sah ihm in die Augen. Sein Gesicht war ganz ausdruckslos, aber er zog die Augenbrauen hoch und zuckte kaum merklich mit den Achseln. Ich faßte es so auf, als hätte er sich in das Unvermeidliche gefügt.
Aber ich verrechnete mich.
Wenn sich vier Männer in einem kleinen Raum längere Zeit gegenseitig anstarren, so entsteht allmählich eine Atmosphäre nervöser Spannung. Der Wunsch, das Schweigen zu unterbrechen, oder irgendeine Art von Kontakt mit den anderen herzustellen, wurde in jedem von uns allmählich übermächtig. Der Mann mit dem Hammer unterlag zuerst. Sein Gesicht verzog sich plötzlich zu einem dummen Grinsen.
Zaleshoff grinste ihn seinerseits an.
»Habt ihr was dagegen, wenn wir uns setzen, Genossen?« fragte er.
Das Grinsen verschwand vom Gesicht des Arbeiters ebenso schnell, wie es gekommen war. Ich sah ihn einen schnellen Blick auf seinen
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