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Anlass

Anlass

Titel: Anlass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ambler
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klettern.
    Ich zählte die Schritte des Mannes, als er heraufstieg. Eins, zwei, drei, vier … Noch eine Stufe, und sein Kopf würde auftauchen. Wir waren gefangen. Ich wartete auf seinen Schrei. Ich fragte mich verzweifelt, ob es nicht besser sei, jetzt aufzustehen und sich zu ergeben. Vielleicht würde der Polizist dann nicht schießen. Als ich den Speichel schluckte, der sich in meinem Mund sammelte, sah ich, daß Zaleshoff sich so vorbewegt hatte, daß er nahe der Kante des Daches war, an der der Mann erscheinen mußte. Im nächsten Augenblick wurde sein Kopf sichtbar. Er machte noch einen Schritt, und sein Gesicht erschien wie ein weißer Fleck. In diesem Augenblick holte Zaleshoffs linker Arm aus und ergriff den Mann beim Kragen. Ich sah, wie seine rechte Hand den Revolver seitlich gegen den Kopf des Mannes preßte.
    Es ereignete sich im Bruchteil einer Sekunde. Da er sich mit seinen Händen an den Eisenstangen seitlich am Wagen festhielt, konnte der Mann sich nicht verteidigen. Ich hörte, wie er einen unartikulierten Laut des Schreckens von sich gab. Dann, zu leise, als daß ich es hätte hören können, flüsterte Zaleshoff ihm etwas zu. Im nächsten Augenblick kletterte der Mann langsam auf das Dach. Jetzt konnte ich sein Gesicht deutlicher sehen. Sein Mund war halb offen, und seine Augen bewegten sich schnell von einer Seite zur andern, als suche er einen Fluchtweg. Er beugte sich vor, um sich mit den Händen festzuhalten. Zaleshoff hob den rechten Arm. Ich sah, wie er den Revolver am Abzugsbügel herumwirbelte und ihn am Lauf packte. Dann schlug er den Kolben mit aller Macht auf den Hinterkopf des Mannes.
    Dieser stöhnte einmal auf und sank nach vorn, halb auf das Dach und halb darüber hinaus.
    »Ziehen Sie ihn herauf«, flüsterte Zaleshoff.
    Ich faßte die ausgestreckten Arme und zog. Zaleshoff versuchte, die Füße seitlich aufs Dach zu ziehen. Es erforderte große Kraft, während wir flach auf dem Bauch lagen, aber irgendwie ging es. Unten bewegte sich etwas, und der Polizist rief herauf, ob auf den Dächern der anderen Viehwagen etwas zu sehen sei.
    Zaleshoff kroch über das Dach auf die andere Seite.
    »Niente« , rief er zurück. Er sprach das Wort so undeutlich aus, daß es kaum mehr als ein Grunzen war.
    Von unten her erscholl ein Fluch. Dann wurden die Türen des nächsten Waggons aufgeschoben. Der Kopf des Bewußtlosen fing an stark zu bluten, und das Blut tröpfelte über das gewölbte Dach und sickerte in die Schulter meines Mantels. Ich versuchte mich zu rühren, aber Zaleshoff machte eine warnende Geste. Man hörte, wie der dritte und der vierte Wagen untersucht wurden. Dann winkte mir Zaleshoff. Ich kroch zu ihm hinüber. Er kam mit seinen Lippen nah an mein Ohr.
    »Wir müssen jetzt runter, einer nach dem andern«, flüsterte er. »Sie gehen zuerst. Wenn Sie unten sind, wenden Sie sich von ihnen ab und gehen, wohlgemerkt, gehen ruhig und langsam den Wagen entlang. Bleiben Sie ganz nahe dran. Sie werden diesen Mann gleich vermissen, und wir müssen sehen, daß wir wegkommen. Ich werde Sie einholen.«
    Unendlich behutsam schwang ich meine Beine über den Rand des Daches und kam mir dabei so auffällig vor wie ein Flugzeug im Licht eines Scheinwerfers. Ich rollte mich herum und fühlte mit den Zehen nach den Tritten. Ein paar Augenblicke später war ich am Boden. Ich warf einen Blick auf die Laternen, die noch immer in einer Entfernung von etwa zwanzig Metern vor mir leuchteten. Ich wäre am liebsten losgerannt, aber ich beherrschte mich. »Gehen« hatte Zaleshoff gesagt. Ich wandte mich um und ging. Ein schwaches Geräusch hinter mir und Zaleshoff hatte mich erreicht. Sicher gelangten wir zum Lokschuppen.
    Inzwischen konnte man in der Umgebung Einzelheiten wahrnehmen. Ziemlich weit weg, zu unserer Rechten, war das Waagebüro. Gegenüber dem Lokschuppen, ungefähr hundert Meter vor uns, war ein langes, niedriges Gebäude, das wie ein Lagerschuppen aussah. Ich erinnerte mich an eine Bemerkung, die ich belauscht hatte.
    »Der Vorarbeiter hat gesagt, dieser Weg sei bewacht«, sagte ich schnell, denn Zaleshoff schaute in die Richtung.
    »Das habe ich auch gehört. Wir gehen nicht in die Richtung. Wir müssen über die Gleise zum Bahnhofsgebäude, und da gibt’s vermutlich nur einen Weg. Kommen Sie, wir wollen sehen, wie wir weiterkommen.«
    Ich war plötzlich gereizt. Meine Nerven waren am Ende. Er behandelte mich wie ein Kind. Und mir tat außerdem der Mann leid, den er niedergeschlagen

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