Anlass
weiterging, um etwas zum Essen oder Trinken zu holen. Daß er dabei weniger riskierte, machte es ihm nicht leichter; übrigens wurde es für ihn bald ebenso gefährlich wie für mich. Daß ich die Lage einfach so hinnahm, beruhte auf der stillschweigenden Überzeugung, daß Zaleshoff besser in Form sei als ich. Erst jetzt erkenne ich, daß Zaleshoffs Überlegenheit keine körperliche, sondern eine moralische war. Ich erinnere mich heute mit einer Mischung von Schuldgefühl und Rührung daran, wie sein Gesicht grau wurde, wenn er müde war, und wie er sich mit dem Handrücken über die Augen fuhr. Dabei kommt mir ein kleiner Zwischenfall in den Sinn, der sich später ereignete. Er war plötzlich stehengeblieben und hatte sich gegen einen Baum gelehnt. Müde und gereizt hatte ich ihn gefragt, was los sei. Seine Augen waren geschlossen. Seine Gesichtsmuskeln verzogen sich. Dann sah er ärgerlich drein und sagte, er hätte einen Stein im Schuh. Das war alles. Er tat, als zöge er den Stein heraus, und wir gingen weiter. Man konnte Zaleshoff nicht böse sein.
Ich war beinahe eingeschlafen, als er zurückkam. Er schüttelte mich. Ich öffnete die Augen und sah sein Gesicht über mir. Der Schweiß rann in Bächen durch den Staub und Schmutz seiner unrasierten Wangen.
»Etwas zu trinken und zu essen«, sagte er.
Er hatte Brot und Wurst und eine Flasche Wasser, das mit Wein vermischt war, von der Bäuerin in einem Haus in der Nähe gekauft. Der Bauer war auf dem Feld gewesen, und niemand hatte ihn gesehen, außer dem Fahrer eines vorüberkommenden Lastautos.
»Ich hätte reines Wasser vorgezogen«, fügte er hinzu, »aber sie sagte, es sei sicherer mit etwas Wein darin. Ich wollte darüber nicht diskutieren. Wir wollen nicht noch Magenbeschwerden zu allem anderen bekommen.«
Ich war zu müde, um viel zu essen. Als wir fertig waren, steckten wir den Rest in unsere Taschen, zusammen mit der halbgeleerten Flasche, rauchten eine Zigarette und gingen weiter.
Der Nachmittag war eigentlich noch schlimmer als der Morgen. Es war der erste wirklich heiße Tag, den ich in Italien erlebte. Wir wanderten mit unseren Mänteln und Röcken über der Schulter. Die Fliegen peinigten uns unerträglich. Zweimal mußten wir einen großen Bogen machen, um Bauern auszuweichen, die auf dem Felde arbeiteten. Wir kreuzten eine zweite Seitenstraße. Gegen vier Uhr machte Zaleshoff halt.
»Wenn wir so weitergehen«, keuchte er, »bringen wir uns um. Jetzt können wir nicht mehr weit von der Bahnlinie sein. Der Teufel soll uns holen, wenn wir jetzt nicht etwas trinken und warten, bis die ärgste Hitze vorüber ist.«
Wir ruhten eine Stunde im Schatten eines Baumes, wobei wir dummes Zeug redeten, um nicht einzuschlafen. Als wir wieder aufstanden, verschwand die Sonne langsam hinter den Bäumen am westlichen Horizont. Die Fliegen waren jetzt weniger lästig. Zaleshoff schlug vor, im Gehen zu singen, um in einen guten Marschschritt zu verfallen. Zuerst hielt ich das für ein durchsichtiges Manöver, um eine gute Stimmung vorzutäuschen, aber überraschenderweise munterte mich das trübselige Summen, das wir hervorbrachten, sehr auf. Meine Beine schienen sich automatisch weiterzubewegen, als ob sie nicht mir gehörten. Alles, was ich von ihnen noch verspürte, waren die schmerzenden Schenkel und das Brennen der Fußsohlen. Wir begannen einen langen sanften Abhang hinabzusteigen.
Um etwa halb sieben Uhr hörten wir einen Zug pfeifen.
Zaleshoff rief mit keuchendem Atem: »Haben Sie das gehört, Marlow? Haben Sie es gehört?«
»Es klang verdammt weit entfernt.«
»Elektrische Pfeifen klingen immer so. Noch ein paar Kilometer, und wir haben es hinter uns.«
Zwanzig Minuten später kreuzten wir unsere dritte Straße. Sie war etwas breiter als die anderen, und wir mußten einen Personen- und einen Lastwagen vorbeilassen, ehe wir unsere Deckung verlassen und hinüberlaufen konnten.
Jetzt wurde der Weg schwieriger. Vorher waren wir über offenes, teilweise kultiviertes Land gegangen, nur gelegentlich hatten Hecken oder niedrige Steinmauern die Besitzungen abgegrenzt. Gegen die Bahnlinie zu wurden die Felder kleiner und waren oft mit Draht umzäunt. Einmal gingen wir ziemlich nahe an einer größeren Fabrik mit hohen Kaminen vorbei. Als wir dann über eine kleine Anhöhe kamen, deutete Zaleshoff auf etwas, das wie ein dünner Streifen grauer Wolken am Horizont aussah, und sagte, das seien die Hügel oberhalb von Bergamo. Nicht lange danach sahen wir
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