Ann Pearlman
die davor. Aber …« Ich zucke die Achseln. »Er hat einfach aufgehört. Seine Brust hat sich nicht mehr bewegt. Seine Nasenflügel haben nicht gezittert. Seine Hände waren völlig reglos. Er war nicht mehr mein Troy und würde es nie wieder sein.«
Tara schweigt eine Minute, dann sagt sie: »Wenigstens wart ihr zusammen. Er ist nicht allein gestorben.«
Sie versteht es einfach nicht. Sie versteht nur die Liebe und dann das Alleinsein, aber sie versteht nicht, wie es sich angefühlt hat. »Ich wusste es nicht, er wusste es nicht, wir wussten beide nicht, wann der letzte Atemzug kommen würde. Welcher es sein würde. Jetzt weiß ich es, weil es danach keinen mehr gab. Aber ich kriege das Unheimliche, das Grundlegende der Veränderung einfach nicht aus dem Kopf. Manchmal kommt dieses Gefühl zurück und macht sich in mir breit.«
Eigentlich wundert es mich, dass ich überhaupt versuche, es jemandem zu erklären – und ausgerechnet Tara. »Es ist dieser krasse Unterschied zwischen Tod und Leben. Und das schreckliche Privileg, den Wechsel mitzubekommen.« Besser kann ich es nicht ausdrücken. Zumindest im Moment. Vielleicht kriege ich es später hin. Vielleicht aber auch nicht.
Also fahre ich einfach weiter. Inzwischen sind wir auf der 71, vorbei an Nashville, ab nach Norden. Wir haben einen großen Teil von Amerika durchquert, so schnell, dass ich merke, wie die Landschaft sich verändert. Die Felsen und Wüstengegenden von Kalifornien, die riesige Schlucht des Grand Canyon, die trockenen Berge New Mexicos. Dann die weitläufige Ebene des Südens, flach und ausgedörrt. Jetzt befinden wir uns in üppigem Waldland, und es wird kälter, denn wir fahren dem Winter in die Arme. Drei Stunden sind wir heute schon unterwegs. Es ist Mittag, der Himmel klar, das Wetter noch relativ mild. Ein perfekter Tag zum Autofahren.
»Er war nicht allein«, wiederholt Tara. »Du warst bei ihm. Er wusste, wie sehr du ihn liebst. Und weißt du …« Sie räuspert sich, und sie starrt mich von der Seite an. »Weißt du eigentlich, wie sehr er dich geliebt hat?«
Ich schüttle den Kopf. »Es ist jenseits der Liebe. Jenseits von allem. Dieses Weggleiten eines Menschen, dieser Übergang in eine andere Dimension.« Ich breche ab. Dann fällt mir wieder ein, was ich als Nächstes getan habe. Ich bin zu Troy ins Bett gekrochen, habe meine Wange auf seine Schulter gelegt und mich an ihn gedrückt. So lagen wir gern, so hatten wir uns in all den Jahren jeden Abend und jeden Morgen zusammengekuschelt. »Mein Platz«, hab ich es genannt. »Ich möchte an meinen Platz«, habe ich oft gesagt, und dann hat Troy sein Buch weggelegt und mich in den Arm genommen. So lag ich nach seinem Tod vielleicht eine Minute, aber dann fingen die Signalgeber auf den Monitoren an zu piepen, und weil ich wusste, dass gleich die Schwestern hereinstürzen würden, küsste ich ihn auf die Wange und stand auf.
Tara weiß nicht, was sie sagen soll, dreht sich um und schaut, was die Kinder machen. »Sie schlafen friedlich«, berichtet sie. »Levy hat den Arm auf Rachels Bein gelegt, ihr Kopf ist auf seiner Decke. Er hat Rachels Stoffhasen im Arm.«
Vermutlich ist das ihre Art zu sagen, dass das Leben weitergeht, dass es immer noch gut ist. Ich schaue auf die Straße, und wir schweigen. Man kann nichts sagen, um es besser zu machen. Sie kann bei mir sitzen und zuhören. Die Zeit verstreichen lassen. Aber jetzt habe ich genug vom Reden.
So fahren wir den Rest des Weges auf der 71 und suchen nach der 65. Der Tourbus und der Möbelwagen sind vor uns. Überraschenderweise finde ich es angenehm, Tara neben mir zu haben. Wir halten an, um zu tanken, einen Kaffee zu trinken, kaufen Erdnüsse, Käse-Cracker und Äpfel.
Tara schüttelt den Kopf über meinen Süßstoffverbrauch. »Warum nimmst du denn nicht wenigstens richtigen Zucker? Erzähl mir nicht, dass du auf deine Figur achten musst!«
Ich rechtfertige mich nicht.
Dann sind wir wieder im Auto, fahren unter klarem Himmel durch Kentucky, als ich plötzlich Bremsen kreischen höre.
Ein Geländewagen fliegt über den Mittelstreifen und überschlägt sich.
Ich trete auf die Bremse.
Der Wagen landet vor uns. Die Türen springen auf.
Mit aller Kraft drücke ich auf die Bremse, die Arme ausgestreckt gegen das Steuer gestemmt. Das Auto neben mir gerät ins Schlingern, gerät auf den Seitenstreifen und saust ein Stück die Böschung hinunter. Mit quietschenden Reifen weiche ich ihm aus, verfehle ihn um Haaresbreite, aber
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