Ann Pearlman
großherzig.«
Das sagt er, als bezieht es sich nicht nur auf meine Bereitschaft, die Kinder zu übernehmen, sondern auch auf andere Dinge. Auf eine grundsätzliche Einstellung, nach der ich lebe. Großherzig im Sinn von nicht nachtragend.
»Ich möchte helfen, so gut ich kann. Sky ist meine Schwester, Rachel meine Nichte. Ich liebe sie. Das macht es leicht.«
»Na klar«, sagt er.
»Sky würde für mich das Gleiche tun.«
Er sagt nichts. Als wir jünger waren, hat Sky sich bei ihm über mich beklagt. Aber ich weiß, dass sie mich nur deshalb so kratzbürstig behandelt, weil sie auf die Art ihre wahren Gefühle vermeiden will. Das weiß ich seit einem bestimmten Ereignis vor ziemlich langer Zeit. Noch bevor Troy auf der Bildfläche erschien.
Damals war ich sechs Jahre alt, und Dad tauchte wieder einmal nicht auf, um mich zu unserem gemeinsamen Wochenende abzuholen. Ich schaute lange aus dem Wohnzimmerfenster, dann setzte ich mich auf die Verandatreppe, dann ging ich vor dem Haus auf und ab. Kein Dad in Sicht. Mom war bei irgendeiner Verabredung, und Sky sollte auf mich aufpassen, bis Dad kam, dann wollte sie zum Übernachten zu ihrer Freundin Marissa. Ich wartete und wartete, aber kein Dad erschien. Es muss wohl Spätfrühling oder Frühsommer gewesen sein, denn der Abend war mild, und als es dunkel wurde, kamen Glühwürmchen heraus. Ich habe überlegt, ob ich mir ein Glas holen und ein paar von ihnen fangen sollte, um nicht nur dumm auf der Treppe herumzusitzen, auf die Straße zu starren und bei jedem Motorengeräusch zusammenzuzucken.
Zum Abendessen machte Sky Frühstück für uns … Müsli wahrscheinlich oder Rührei … dann sah sie fern und telefonierte mit Marissa.
Ich ging wieder nach draußen. Inzwischen schliefen sogar schon die Glühwürmchen. Vielleicht hatte Dad einen Unfall gehabt. Ich rannte zu Sky. »Vielleicht ist ihm was passiert! Vielleicht ist er im Krankenhaus!« Auf einmal fühlten sich meine Erklärungen an, als wären sie die schreckliche Wirklichkeit. »Was ist, wenn Daddy stirbt?«
Aber Sky schnaubte nur verächtlich, beendete ihr Gespräch mit Marissa und wählte Dads Nummer. Keine Antwort. »Er ist wahrscheinlich mit einer Frau unterwegs.«
»Ich hab Angst«, sagte ich. Ich überlegte, ob ich bei meinem Klavier Zuflucht suchen sollte, aber da zog Sky mich an sich und wiegte mich, wie Mom es immer machte. Ich staunte, und obwohl meine große Schwester knochig war und ich mich schlecht an sie anschmiegen konnte, fühlte sich ihre Umarmung so wunderbar an, dass ich die spitzen Knochen und scharfen Ellbogen einfach ignorierte.
»Ich weiß. Komm, wir gehen spazieren«, sagte sie.
»Echt?« Ein Spaziergang im Dunkeln. »Was, wenn Dad doch noch kommt?«
Sie ging vor mir auf die Knie. »Er kommt nicht. Kapier das endlich. Er macht etwas anderes, was er wichtiger findet.« Sie tippte mit dem Finger gegen meine Schläfe, als wollte sie mir Gedanken ins Hirn drücken, und ihre Pupillen waren groß, von der grauen Iris umgeben wie von einem Heiligenschein. »Wir gehen zum Magic Mountain.«
»Wow. Okay.« So kannte ich meine Schwester gar nicht. »Meinst du, das ist okay?« In Wirklichkeit fragte ich, ob sie jetzt die ganze Zeit so nett bleiben würde.
»Ja, ich bin dein Babysitter, ich kann bestimmen. Hast du etwa Angst vor der Dunkelheit?«, neckte sie mich.
Ein bisschen Angst hatte ich schon, aber das hätte ich nie zugegeben.
Über uns wölbten sich dicht belaubte Bäume, die kühle Luft roch nach Frühlingsblumen. Wir wanderten mitten in der Nacht draußen herum, niemand wusste, wo wir waren, und ich hatte eine dicke Gänsehaut auf den Armen.
Im Park angekommen stiegen wir auf den Magic Mountain. Heute weiß ich, dass der Hügel keineswegs ein Zauberberg ist, sondern schlicht aufgeschütteter Schutt, der den Kindern im Winter zum Schlittenfahren dient, aber damals erschien er mir riesig, vor allem, als wir hoch über dem Park auf seinem Gipfel standen. Im Schein der fernen Straßenlaternen erstreckten sich die Schatten der Rutsche und der Klettergerüste weit über die Wiese unter mir hinweg.
Doch Sky war vollkommen entspannt.
»Es ist dir egal, oder nicht?«, fragte ich.
»Hä?«
»Es ist dir egal, ob Dad im Krankenhaus ist oder sogar tot. Du hasst ihn.«
»Nein, ich hasse ihn nicht. Er hat einfach nichts mit mir zu tun. Er ist ja nicht mein Dad, sondern deiner. Er hat Mom geheiratet, ihr das Leben vermasselt und euch beide verlassen.«
Das war die Wahrheit, ich wusste
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