Ann Pearlman
können, denn wenn Rachel mit ihm spielt, vergisst sie alles andere und lacht.
Sky starrt aus dem Fenster, auf das Muster im Teppich, auf Troys Asche.
»Wir müssen weiter mit der Tour. Morgen ist das Konzert in Vegas, und danach sind wir zwei Tage unterwegs.« Ich sage das mit der Stimme, die Aaron hat, wenn er den Boss spielt und die Crew organisiert. »Wenn du umziehen willst, musst du in drei Tagen so weit sein.«
Mom wirft mir einen Blick zu.
»Was denn? Es geht nicht anders. Die Leute verlassen sich auf mich«, sage ich und erwidere ihren Blick.
»Was möchtest du?«, wendet Mom sich an Sky. »Lieber hierbleiben oder nach Hause kommen?« Inzwischen macht keiner mehr Andeutungen und Vorschläge.
»Was ihr für das Beste haltet.« Sky starrt auf die Urne in ihrem Schoß.
»Na gut, dann bereiten wir deinen Umzug vor, zurück nach Ann Arbor. Nach Hause.«
Und als hätte jemand einen Schalter betätigt, setzen wir uns alle in Bewegung. Während ich beim Packen helfe, denke ich an King und an die Chance, die er mir angeboten hat. In den Pausen, wenn ich mir gerade mal keine Sorgen um meine Schwester mache, denke ich an mich selbst.
Die Wahrheit ist, dass ich keine Jungfrau mehr war, als ich Aaron an diesem Tag bei Habitat for Humanity begegnet bin. Natürlich wusste er das. Nachdem wir uns ein bisschen kennengelernt hatten, habe ich es ihm geschrieben. Damals saß er noch im Knast. Er hatte sogar schon mit ein paar Mädchen Sex gehabt, aber ich hab damals gehofft, dass es zu Ende war, ein für alle Mal. Ich habe gehofft, nach Levys Geburt würde ich mich sicher fühlen. Keine Ahnung, warum eigentlich. Meine Mutter war nach meiner Geburt doch auch nicht in Sicherheit. Inzwischen weiß ich, dass nichts jemals endgültig aus und vorbei ist. Die Vergangenheit ist immer auch die Gegenwart. Die Vergangenheit ist die Zukunft. Passiert ist Folgendes:
Ich war in Blue Lake, einem Musik- und Kunst-Camp. Meine Lehrerin meinte, ich sollte mich bewerben, also habe ich eine CD eingeschickt, erhielt prompt ein Stipendium und kam gleich in den Fortgeschrittenenkurs. Als ich es meinem Vater erzählte, meinte er: »Dann hat sich der Unterricht, den ich dir spendiert habe, ja doch ausgezahlt.« Trotzdem ist er zu keinem einzigen Auftritt von mir gekommen.
Ich war begeistert, mit Leuten zusammen zu sein, die so waren wie ich.
Aber sie waren nicht wie ich. Sie waren da, weil sie in ein Camp wollten. Oder weil ihre Eltern sie unter Druck setzten, damit sie in eine musikalisch anspruchsvolle Band oder ein gutes Orchester aufgenommen wurden und später in ein Spitzen-College konnten. Oder weil die Eltern sie eine Weile loswerden wollten, um nach New York, Toronto oder Paris zu reisen. Die Mädchen waren allesamt perfekt manikürt und pedikürt und hatten lange glänzende Haare. Sie ähnelten eher Sky als mir. Also konzentrierte ich mich auf die Kurse und aufs Schwimmen im See.
Dann lernte ich Horus kennen. Allein sein Name machte ihn schon zum Außenseiter. Er trug mit Farbe bekleckste Klamotten und eine Omabrille. Und hatte einen Lockenkopf, der aussah wie ein chaotischer Heiligenschein. Er studierte literarisches Schreiben und Malerei, und wir besuchten zusammen einen Kompositionskurs, in dem er immer am Rand saß, isoliert vom Rest der Teilnehmer. Zusammen schlenderten wir in die Cafeteria, um uns zum Lunch ein Sandwich mit Fleischwurst oder Erdnussbutter und Limettengelee zu holen. Er aß mit gesenktem Kopf, ich machte Muster aus grünen Klecksen. Eines Abends landeten wir nebeneinander am Ufer des Sees. Wie sich herausstellte, hatte auch er ein Stipendium und kam aus Ypsilanti. Er malte farbenfrohe Menschen ohne Körper. Auf einem seiner Bilder waren ein super-realistisch gezeichneter Arm und ein Baum zu sehen.
»Doof hier, findest du nicht?«, fragte er mich.
Wir saßen am Fuß einer kleinen Anhöhe am See. Die anderen gingen zurück zur Cafeteria. Er malte Wolken, in die sich kleine Häuser kuschelten.
»Ich fühle mich verdammt seltsam«, sagte ich zu den Wolken, die er malte. »Zwischen den anderen Mädchen, meine ich. Na ja, die haben es leicht, ein paar Prinzessinnen, die Musik machen.« Ich zog mir die Kapuze meines Sweatshirts über den Kopf.
»Ich achte nie auf so was. Außerdem spielt es doch keine Rolle. Ich bin hier, um zu lernen, und wir kriegen die gleichen Vorteile. Vielleicht ist die Zeit hier für uns wertvoller.« Er legte den Kopf schief, ein Lächeln in den Mundwinkeln, als wüsste er etwas über
Weitere Kostenlose Bücher