Ann Pearlman
mich, was ich nicht wusste.
Lange starrte er mich an. Ich leckte mir die Unterlippe. »Was denn?«
»Du könntest ziemlich süß sein, wenn du nicht so spießig wärst. Chaotisch würde dir viel besser stehen.« Er zog das Gummi aus meinem Pferdeschwanz, wuschelte meine Haare, bis sie in alle Richtungen abstanden, und zog das Hemd aus meiner Hose. »Schon besser.«
»Du findest mich zu angepasst, was?«
»Jetzt nicht mehr.« Als er mich schubste, gab mein Arm unter mir nach, und ich landete im sandigen Gras. Er beugte sich über mich und küsste mich kurz und abrupt, ehe ich mich entscheiden konnte, ob ich ihn wegstoßen sollte. Ich lag da, und seine dunklen Augen funkelten mich durch seine Brille an. Und dann schloss ich die Augen und drückte die Handflächen in den Sand.
Einen Moment spürte ich ihn zögern, er war unsicher, was er jetzt tun sollte, aber ich hatte nicht vor, ihn aufzuhalten. Schließlich beugte er sich wieder über mich und legte den Mund auf meinen. Zögernd. Meine Lippen öffneten sich, und ich schmeckte die Textur seiner Zunge. Er schloss mich in die Arme, drückte mich an sich, um meinen Körper durch unsere Shirts zu spüren, und mein Herz schlug schneller.
Im nächsten Moment ertönte die Klingel. Wir sprangen auf und gingen zum Fahnenmast. Alle standen im Kreis und sangen Day is done . Gone the Sun, während die Fahne herabgelassen wurde.
Die melancholischen Töne hingen über dem Gras, und er drückte meine Hand. Sie war schweißnass.
»Hey, treffen wir uns nachher? Mitternacht. Drüben bei den Booten.«
»Obwohl ich so spießig bin?«, lachte ich.
Es gab keinen Mond und auch keine Straßenlaternen, die Sterne wurden von Wolken verdeckt. Mit angehaltenem Atem schlich ich mich aus meiner Hütte, wobei ich sorgfältig darauf achtete, nicht auf die knarrende Diele zu treten, und schloss langsam die Fliegengittertür, damit sie nicht zuknallte. Sobald ich draußen und auf dem Weg war, sah ich das offene Feld. Leer bis auf die Bäume und den Fahnenmast. Auch der See war eine leere Fläche, die Boote dunkle, bucklige Silhouetten auf dem Wasser. Horus war nicht da. Ich stand neben einem Kanu, lauschte den Wellen, die ans Ufer schwappten, und fühlte mich dumm und im Stich gelassen.
Dann war er plötzlich hinter mir und schlang die Arme um mich. »Du riechst wie Babypuder«, sagte er.
»Gefällt dir das nicht?«
»Erinnert mich an meine Geschwister.«
Ich drehte mich um und suchte in der Dunkelheit seine Augen.
Vor ein paar Stunden noch waren wir ungezwungen und entspannt gewesen. Jetzt standen wir beide unter Zugzwang und wussten nicht recht, was wir tun sollten. Die Situation war so sonderbar künstlich. Mich wegzuschleichen war kein Problem gewesen, aber was nun? Mir reichte es eigentlich, einfach mit ihm zusammen zu sein. Aber dann packte er meine Hand.
»Du bist so zart, so klein.« Er schloss die Finger um mein Handgelenk.
Ich hasse es, dass ich so klein bin, denn wenn man klein ist, wird man leicht übersehen und nicht ernst genommen.
Er küsste mich, und ich schmiegte mich an ihn. Um an seine Lippen zu kommen, musste ich mich auf die Zehenspitzen stellen. Aber jetzt, da ich ihm auf diese Weise mein Verlangen zeigte, war ich plötzlich auch mit meiner Verletzlichkeit konfrontiert, mit meiner Angst, abgewiesen zu werden, und mir wurde klar, welches Risiko ich einging.
Er zog mich an sich, seine Hände glitten über meinen Rücken, mein Gesicht, ohne dass unsere Lippen sich trennten. Als er meine Brüste berührte, staunte ich, was für ein Prickeln seine Finger dort auslösten. Inzwischen sind mir all diese Reaktionen vertraut, aber damals war es, als würde ich mich selbst erforschen. Ich hielt Horus nicht auf, denn vielleicht war ich ihm ja deswegen begegnet, vielleicht war das der Grund, warum ich auf Zehenspitzen in der Dunkelheit stand. Langsam wanderten seine Hände unter meinen BH, meine Nippel waren hart, mein Atem ging keuchend.
Ich wünschte mir, er würde mich in den Arm nehmen und mich trösten, aber ich konnte den Schmerz, der nach Trost verlangte, nicht beim Namen nennen. Noch nie hatte ich so etwas gespürt.
»Horus?«, flüsterte ich.
»Was?«
»O Gott. Nichts.« Ich drückte mich noch enger an ihn und glitt an seinem Körper nach unten, um wieder festen Boden unter den Füßen zu bekommen.
»Du fühlst dich so gut an«, flüsterte ich. »Und riechst unglaublich gut.« Auf einmal wurde ich unsicher – womöglich würde es die Stimmung verderben, wenn
Weitere Kostenlose Bücher