Ann Pearlman
Schuld.«
»Wenigstens hat er uns nicht gezwungen, aufs Revier zu fahren und dort alles auszuladen.«
»Was meinst du denn damit? Soll ich jetzt auch noch dankbar sein, dass er mich nicht verprügelt hat? Oder dass er mich nicht gelyncht hat?« Er sagt das ganz ruhig, aber die Wut, die Bitterkeit und eine unermessliche Traurigkeit sind unüberhörbar.
»Er hat gedacht, wir sind Drogendealer.«
»Echt? Dealer?« Wahrscheinlich passen wir ins Schema. »In einem Möbelwagen?«
»Ja, er dachte, irgendwo da drin wären Drogen versteckt. Warum sonst sollten wir zusammen unterwegs sein?«
Ich versuche mir vorzustellen, ich wäre ein Drogendealer. Ich, die ich eine Einkaufsliste schreibe und mit dem Navi zum Supermarkt fahre. Ich, die ich die Zahlen dreimal überprüfe, ehe ich meine Steuererklärung abgebe. Das ist so absurd, dass ich kichere. »Ja. Richtig. Wäre ich nicht großartig als Drogendealer?« Dann fällt mir plötzlich wieder ein, was ich der Crew vorgeworfen habe. Die Sache mit den Drogen.
Draußen liegen immer noch verbogene Reifenteile herum, Spuren von schnellen Rädern auf zu heißen Straßen. Beweise schlecht verarbeiteter Reifen mit potenziell tödlichen Fehlern, die keiner ausgebessert hat. Da liegen sie, wie Leichen, Überbleibsel von Trucks und Vans, die diese Straße entlanggefahren sind.
Eine Stunde später machen wir halt, um zu tanken, zur Toilette zu gehen und einen Kaffee zu trinken. Smoke sieht, wie ich ein Dutzend Süßstoffpäckchen gleichzeitig aufreiße und das Zeug zusammen mit Vanille-Sahnepulver in meine Tasse kippe.
»Du solltest nicht so viel von diesem künstlichen Zeug in dich reinschütten«, sagt er kopfschüttelnd.
»Wer bist du – mein Vater?«
Auch Troy hat sich immer darüber beklagt, dass ich so un vorsichtig bin mit dem, was ist zu mir nehme. »Du weißt nicht, was so ein Übermaß von Chemikalien mit dir macht. Die Ratten sind jedenfalls dran gestorben.«
Smoke wirft mir einen stirnrunzelnden Blick zu. »Du weißt das doch selbst.«
»Ich kann ja nicht ewig leben«, entgegne ich.
Wieder schüttelt Smoke den Kopf.
Hinter der Kasse steht ein Teenager mit kurzgeschnittenen braunen Haaren und einem in die Jeans gesteckten karierten Hemd. Als ich mit meinem chemieverseuchten Kaffee, einer Tüte Studentenfutter und einer Packung Trockenfleisch anrücke, grinst er. »Tragen Sie immer ein Kleid?«, fragt er, als er mein Geld entgegennimmt. Seine Ärmel sind ordentlich aufgerollt, so dass man seine Uhr sieht.
»Nein, nur heute«, antworte ich.
»Sieht hübsch aus. Sehr hübsch.«
Im gleichen Moment spüre ich, wie jemand an meinem Rock zupft, und da steht Levy und schaut zu mir auf. »Möchtest du eins?«, fragt er und streckt mir zwischen Daumen und Zeigefinger ein gelbes M&M entgegen.
»Gern«, antworte ich und öffne die Hand.
»Bitte schön, Tante Sky.« Tante Sky. Ich glaube, so hat er mich bisher noch nie genannt. Behutsam legt er mir das M&M auf die Handfläche. Dann lächelt er. Genau wie Mom.
Auf einmal erkenne ich Mom in seinem Gesicht.
Es ist mir nie aufgefallen, wie ähnlich er ihr ist – ungeachtet seiner Hautfarbe, seiner Größe, seines Geschlechts. Wie kann mir das bisher entgangen sein? Warum habe ich in ihm immer nur Taras braunhäutiges Kind gesehen, warum ist mir die Ähnlichkeit mit Mom nie ins Auge gefallen? Ich beuge mich zu ihm und nehme ihn in den Arm. »Du lächelst genau wie deine Großmutter.«
Levy lacht. »Das sagen alle.« Dann wird sein Gesicht wieder ernst. »Aber ich hab es ihr nicht weggenommen. Sie hat ihr Lächeln mit mir geteilt.«
Jetzt muss ich lachen. Was ist passiert, was hat sich verändert, dass ich plötzlich Mom in Levy erkenne? »Ich hab so ein Glück, dass du mein Neffe bist. Du bist mein Lieblingsneffe.«
Er kichert.
Für den Rest des Wegs nach Oklahoma City setze ich mich ans Steuer. Smoke schläft, den Kopf ans Fenster gelehnt, die geöffneten Hände im Schoß. Eine Mix-CD mit Ray Charles, Ola Tunja, Art Blakey und den frühen Staple Singers leistet mir Gesellschaft.
10
Leicht angeschlagen
Tara
D ie Nacht verbringen wir im Bus. In Oklahoma City geben wir ein ziemlich kurzes Konzert im Casino, Kinder haben keinen Zutritt, also bleiben Levy und Rachel bei Sky und Allie. Am nächsten Morgen sind wir schon unterwegs nach Mem phis, sieben Stunden Fahrt liegen vor uns. Ein ganzer Tag. Die Crew und Levy sind im Tourbus. Morgen will Sky den Möbelwagen mit Rachel fahren, und Allie nimmt ihren Honda. Das war
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