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Anna, die Schule und der liebe Gott

Anna, die Schule und der liebe Gott

Titel: Anna, die Schule und der liebe Gott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard David Precht
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fest, mit denen Lehrer die Kinder verfolgen müssen. « 62
    Dass das gegenwärtige System den Erfordernissen an ein vernünftiges Monitoring von Schülerleistungen nicht gerecht wird, müssten im Grunde auch die Kultusminister wissen. Gleichwohl verteidigen die meisten von ihnen das überkommene Bewertungsmodell. » Die Kinder wollen doch selbst Zensuren haben « , rechtfertigte die ehemalige bayerische Kultusministerin Monika Hohlmeier im November 2011 in der Talkshow Günther Jauch die bestehende Praxis. Dass Kinder, die von ihren Elternhäusern her wissen, was Zensuren sind, und die von ihren Eltern erzieherisch darauf vorbereitet werden, schon mal die erwartete Schulnote vermissen, wenn sie ausbleibt, ist leicht vorzustellen. Doch welches Kind sollte auf die Idee kommen, eine fehlende Zensur zu betrauern, wenn es noch nie davon gehört hat? Dabei wäre allen Kindern ein Zensuren-freies Schulsystem, wenn es erst einmal einige Jahre flächendeckend praktiziert würde, völlig selbstverständlich. Vor vollendete Tatsachen gestellt, sind Menschen weitaus anpassungsfähiger, als sie es von sich selbst glauben.
    Man muss nur einmal darüber nachdenken, welche entscheidenden Aspekte einer Schülerpersönlichkeit nicht von Zensuren erfasst werden, um zu sehen, worauf man sich im Schulnotensystem eigentlich verlässt. Denn wichtiger als der externe Maßstab des Klassendurchschnitts sollte der interne Maßstab des Kindes sein. Habe ich an Motivation zugelegt? Bin ich interessierter geworden? Habe ich eine kleine, für mich wichtige Hürde gemeistert? Habe ich gelernt, mit einem Misserfolg besser umzugehen? Habe ich neue Ideen entwickelt? Sind mir ein paar gute Einfälle gekommen? Leistungsnachweise wie Klausuren oder Prüfungen, die den Zeugniszensuren zugrunde liegen, sagen darüber nichts aus. Sie bieten allenfalls Momentaufnahmen und testen im Zweifelsfall die Testintelligenz eines Kindes – nämlich ob es im genau richtigen Augenblick darauf vorbereitet ist, was der Lehrer von ihm hören oder wissen will. Weil das Bild, das von einem Kind oder Jugendlichen durch Zensuren entsteht, seiner Persönlichkeit nur sehr unvollkommen Rechnung trägt, folgert Singer, dass Noten schädlich sind » für das Lernen und die Charakterentwicklung der Jugendlichen … Zeugnisse müssten eigentlich, wie Zigaretten, mit einem Warnhinweis versehen werden: ›Die Kultusminister warnen: Noten gefährden die Entwicklung des Kindes.‹ Aber trotz Leistungsstudien, trotz hundert Jahren praktizierter Reformpädagogik an alternativen Schulen ignorieren Bildungspolitiker nach wie vor die gewonnenen pädagogischen Erkenntnisse. Leiden sie an einer Lernstörung? « 63
    Auf die von Singer vermutete Lernstörung vieler Bildungs- und Kultusminister und ihre möglichen Ursachen werde ich am Ende des Buches näher eingehen. Fakt ist, dass das Notensystem in Deutschland zwar vielfach kritisiert wird, von Eltern ebenso wie von Experten und auch von einigen Lehrern, dass es aber noch durchgehend Bestand hat. Dabei besteht das, was als Mangel hervorgehoben wird, nicht nur in der sozialen Selektion und dem psychischen Druck auf unsere Kinder. Es ist ebenso zu fragen, was unser Nachwuchs implizit, also als eine gefährliche Nebenfolge, durch das Notensystem lernt. Wer immerfort getestet wird, lernt ja nicht für sich, sondern im Hinblick auf die Tests. Wer sich clever anstellt, entwickelt dabei eine gewisse Systemintelligenz, immer genau das zu lernen und wiederzugeben, was tatsächlich getestet wird. Auf diese Weise werden unsere Kinder dazu trainiert, Kapitalisten ihrer selbst zu sein und Aufmerksamkeit nur auf das zu lenken, was sich auszahlt. Das, worin man nicht getestet wird, wird damit automatisch entwertet. Wozu soll es denn gut sein, das zu lernen?
    Dass wir bei einem solchen Programm mal wieder völlig jenseits von Bildung sind, dürfte auch klar sein. Denn praktizierte Bildung setzt voraus, dass ich mich für etwas aus eigener Motivation interessiere und es mit anderem verknüpfe, um ebenjene Ideen und Wege zu finden, die gerade nicht vorgezeichnet sind. Stattdessen erzieht unser Schulsystem Kinder und Jugendliche dazu, so eng wie möglich auf den von Schulbüchern und Lehrern vorherbestimmten Wegen zu gehen. Diese Haltung setzt sich anschließend im durch die Bologna-Reform ebenso verengten Studium fort. Die häufigste Frage, die ich bei meinen Vorlesungen an der Universität Lüneburg höre, lautet entsprechend: » Kommt das in der Klausur dran?

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