Anna, die Schule und der liebe Gott
hoch.
Werten und Bewerten
Stellen wir uns mal vor, Sie arbeiten in einem ganz normalen Beruf, sagen wir als Angestellter auf dem Finanzamt. So etwa fünfzehn- bis zwanzigmal im halben Jahr nötigt Sie Ihr Vorgesetzter dazu, einen Test zu schreiben. Er überprüft Ihre Mathe-Kenntnisse, Ihre Computerfertigkeiten, Ihr Arbeitstempo und so weiter. Und wenn Sie mehrmals miserabel abschneiden, verlieren Sie Ihren Job. Das Gleiche kann man sich auch für andere Berufe vorstellen, nicht zuletzt für den Lehrerberuf. So alle zwei Wochen werden Sie als Lehrer von der Schulbehörde beurteilt, und Ihr Unterricht erhält eine Zensur. Bekommen Sie zu viele schlechte Noten, werden Sie als Lehrer entlassen und sind arbeitslos.
Was meinen Sie, was solche Tests und Leistungskontrollen aus Ihrem Leben machen werden? Werden Sie diese für gut und richtig halten, froh darüber, dass Sie sich endlich richtig einschätzen lernen? Und werden Sie sich steigern und besseren Noten entgegenfiebern? Oder werden Sie diese permanenten Inspektionen und Überprüfungen für völlig unzumutbar halten und sich darüber empören?
Wahrscheinlich werden Sie Letzteres denken: dass man Ihnen das unbedingt ersparen sollte. Schließlich sind Sie doch kein Schüler mehr und befinden sich nicht in einer Ausbildung. Sie können, was Sie tun, und niemand braucht das ständig zu kontrollieren. Tatsächlich? Was meinen Sie, wie viele Menschen in Deutschland ihren Beruf ganz ausgezeichnet machen und keinerlei Verbesserungspotenzial mehr haben? Sind alle Lehrer ohne Fehl und Tadel? Gibt es in unseren Verwaltungen nicht Tausende von Menschen, die einen eher schwach motivierten Eindruck hinterlassen? Kennen Sie nicht zahlreiche Verkäufer, deren Kundenunfreundlichkeit eigentlich ein Entlassungsgrund sein müsste? Begegnen uns in unserem Berufsleben nicht bei Weitem mehr Menschen, die etwas mäßig oder durchschnittlich gut absolvieren, als dass sie durch herausragende Leistungen auffallen? Arbeiten ist kein Spitzensport, sondern ein Breitensport, den fast alle betreiben müssen, ob sie nun besonders begabt und geeignet sind oder nicht.
Verbesserungsbedarf besteht also in Hülle und Fülle. Trotzdem empfinden wir als Erwachsene ständige Leistungskontrollen als unzumutbar. Unseren Kindern hingegen, deren Psychen noch viel sensibler und verletzlicher sind als unsere, ist es offensichtlich zuzumuten. Und der einzige Grund, der den permanenten Turnus von Klassenarbeiten, Tests, Prüfungen und Noten, den wir über sie ergehen lassen, rechtfertigt, ist: dass es schon immer so war!
Das Prüfungssystem in unseren Schulen stammt aus einer Zeit, als man noch eine ganz andere Vorstellung von der Psyche von Kindern hatte als heute. Nämlich gar keine! Vor gut 150 Jahren betrachtete man Kinder nicht als Kinder, sondern eher wie kleine, unvollkommene Erwachsene. Kinderschutzgesetze gab es nicht, Kinderarbeit war völlig normal und Prügelstrafe das Natürlichste auf der Welt. Und als in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den preußischen Schulen das dreistufige Notensystem eingeführt wurde (das sechsstufige folgte erst 1938), schickten englische Bergwerksbetreiber ungerührt Kleinkinder in enge Schächte und Stollen.
Dabei spielten Abschlüsse und Zeugnisnoten bis ins späte 19. Jahrhundert nur eine untergeordnete Rolle. Um einen qualifizierten Beruf auszuüben oder gar Karriere zu machen, gab es viele wichtigere Faktoren als Zeugnisse. Erst das Tayloristische Schulsystem des frühen 20. Jahrhunderts, die alles erfassende, verwaltende, ordnende und stigmatisierende Schulwelt, machte Schul- und Universitätsabschlüsse beziehungsweise deren Noten zu jenen Schlüsselkriterien für die Berufswelt, die sie heute sind.
Doch schon während der Zeit, als das Tayloristische Schulsystem seinen Siegeszug begann, gab es heftige Kritik am Evaluierungswahn und dessen Notensystem. » Ich meine « , schrieb die italienische Ärztin und Pädagogin Maria Montessori, » dass in der Erziehung eine Abrüstung dringend nötig ist. « 61 Da die Bewertung von Schülerleistungen durch Ziffern die Persönlichkeit eines Kindes nicht erfasse, sondern missachte, schaffte sie die Zensuren in ihrem Schulmodell völlig ab. Das Gleiche fordert heute Kurt Singer: » Zur Abrüstung in der Schule müssten die Waffen abgeschafft werden: Schüler nicht mehr sitzen lassen, sie nicht durch Noten ängstigen und verfrüht auslesen, achtsam mit ihnen umgehen. Die Kultusminister halten jedoch an den Waffen
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