Anna, die Schule und der liebe Gott
zumindest in manchen Fächern, jahrgangsübergreifenden Unterricht an (oft mit mehreren Lehrern). Die Stundenzahl in den einzelnen Fächern wird oft klüger als früher berechnet, um optimales Lernen zu erleichtern. Seit sich die Schulen auf die moderne Arbeitswelt der Eltern eingestellt haben, in der auch die Mütter nachmittags häufig nicht zu Hause sind, fördert ein gewaltig explodiertes Programm an nachmittäglichen Kursen und AG s Spezialinteressen. Sie bieten Raum, die kindliche oder jugendliche Kreativität zu entfalten. Fächerübergreifende Projekte werden angeboten und turnusmäßig erneuert. Neben die externe Bewertung durch Schulnoten ist ein internes Monitoring getreten, bei dem Schüler lernen, sich auf Selbstkontrollbögen zu bewerten. Einige Schüler lassen sich zu Mediatoren ausbilden, um mit ihrer sozialen Kompetenz das Schulklima zu verbessern. An manchen Schulen werden Eltern geradezu liebevoll um ihre Mitarbeit gebeten und zu vielem befragt. Es existieren sogar Klassenzimmer, die nicht mehr den Muff von hundert Jahren Schule ausstrahlen oder als Teil des globalisierten Baumülls der sechziger und siebziger Jahre mit Klinkern und Neonröhren daherkommen, sondern richtig hübsch sind. Und mancherorts ist inzwischen sogar das Schulessen richtig schmackhaft …
All das gibt es bereits, und es ist gut und richtig. Verbesserungen wie diese sind Vorboten jener Revolution, die unser Schulsystem in den nächsten Jahren verändern muss und wird. Aber es sind eben nur Vorboten, es ist noch nicht die Revolution selbst. Denn die meisten jener Schulen, die zum Beispiel » Lernen lernen « anbieten oder kreative AG s, sind gleichwohl G8-Schulen mit all deren typischen Problemen. Und der Gedanke, Kinder mit Selbstkontrollbögen auszustatten, ändert noch nichts an der Diktatur des etablierten Notensystems. Von sehr wenigen guten Schulen abgesehen, die bereits existieren, sind die meisten unserer Schulen darum bemüht, die neuen (manchmal recht alten neuen) Ideen an das überkommene System anzuflicken – wie eine Verlängerungsborte an eine zu kurze Kinderhose. Unter solchen Umständen bleiben viele neue Konzepte leider auch recht wirkungslos, weil der Geist, der ihnen innewohnt, bei allen Mühen oft nicht in die alten Flaschen passt. » Lernen lernen « ist seit Humboldts Tagen ein schönes Ziel für unsere Kinder. Die Frage ist nur, ob es eine ebenso gute Vorstellung ist, aus diesem hohen pädagogischen Ziel ein weiteres » Fach « zu machen (schlimmstenfalls noch mit einer Zensur), statt es wirkungsvoller in jeden Unterricht zu integrieren.
Statt eines Umbaus haben wir es gegenwärtig vor allem mit immer neuen kleinen Anbauten an ein marodes Gebäude zu tun. Ohne Zweifel hat die mal milde, mal harte Konkurrenz der Schulen, vor allem der Gymnasien, um die besten Schüler den Zwang zur Verbesserung aufkommen lassen. Und auch die sozialen Entwicklungen, die den Status von Kindern in der Gesellschaft stark veränderten, haben Spuren in den Köpfen der Verantwortlichen hinterlassen. Und vielleicht hat sogar der eine oder andere reformpädagogisch inspirierte Professor zu den genannten Verbesserungen beitragen können. Und doch hinken die Schulen bei alledem den zeitgemäßen Anforderungen an sie noch weit hinterher – spürbar im breiten Unmut der Schüler und ihrer Eltern.
Es ist ziemlich zwecklos, die Liegestühle an Deck umzustellen, während die Titanic gerade dabei ist zu sinken. Man muss sich nur einmal des Ernstes halber ein Spiel ausdenken: Gesetzt den Fall, es gäbe gar keine Schule und man müsste sie heute erst erfinden. Ein paar kluge Menschen aus verschiedenen Teilen der Gesellschaft setzten sich zusammen und dächten sich im Jahr 2013 etwas aus, das unseren Kindern dabei helfen soll, zu gut gebildeten Persönlichkeiten heranzureifen. Was käme wohl dabei heraus? Verfiele irgendjemand auf die Idee, die faszinierende Welt des Wissens in Fächer zu unterteilen? Würde man Kindern im Fünfundvierzig-Minuten-Takt völlig zusammenhanglos vier, fünf oder sechs verschiedene Wissensgebiete pro Tag nahebringen? Würde man sich ein Zensurensystem mit sechs Ziffern ausdenken und Zeugnisse, die einzig und allein daraus bestehen? Würde man einen Lehrer vor fünfundzwanzig oder dreißig Schüler stellen? Wäre dieser Lehrer fest verbeamtet und damit praktisch unkündbar? Gäbe es ein dreigliedriges Schulsystem? Von Parteien ausgesuchte Bildungsminister? Müssten alle Gleichaltrigen in eine Jahrgangsstufe
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