Anna, die Schule und der liebe Gott
« Da Philosophie ihrem Charakter nach allerdings kein » Fach « ist, sondern eine Schule des Denkens, ist meine Antwort darauf stets gleich: » Woher soll ich das jetzt schon wissen? «
Bis heute ist mir nicht klar geworden, was die Notendurchschnitte in meinem Abiturjahrgang eigentlich gemessen haben. Intelligenz? Fleiß? Talent? Stressresistenz? Geschickte Kalkulationen? Konformität? Die Mühen des Elternhauses? Raffinesse? Vielleicht war es irgendein unauflösbares Knäuel aus alledem. Doch eines jedenfalls waren die Zensuren auf keinen Fall: aussagekräftig für das spätere Studium oder Berufsleben! Jedes Klassentreffen belehrt unmissverständlich darüber, dass das Leben die Karten oft völlig anders mischt als die Schule. Denn Zeugnisse geben zwar Auskunft über ein gewisses Maß an Intelligenz und Disziplin, aber sie benoten keine Originalität und keine Kreativität und erst recht keine der im Leben so wichtigen sozialen Faktoren wie Kollegialität, Humor, Führungsstärke, Selbstbewusstsein, Charme und Charakterstärke.
Damit hier keine Missverständnisse entstehen: Dass es sinnvoll ist, Schüler durch Belohnungen anzustacheln, ist keine Frage. Wettbewerb, Konkurrenz und Teamgeist sind entscheidende Motivationen für viele Kinder und Jugendliche. Darauf zu verzichten und eine völlig wettbewerbsfreie Kuschelpädagogik an die Stelle zu setzen, wäre unverantwortlich und eine schlechte Vorbereitung auf das spätere Leben. Auch dass Schülerleistungen durch ein Monitoring (einschließlich von Zeugnissen) erfasst werden sollten, wird nicht in Zweifel gezogen. Die Frage ist nur, woran das Monitoring sich orientiert: am normierten Klassendurchschnitt oder an den Entwicklungsfortschritten einer individuellen Schülerpersönlichkeit? Während Zensuren in erster Linie darüber Auskunft geben, wie ein Lehrer einen Schüler aus seiner subjektiven Perspektive (man denke hier vor allem an Fächer wie Geschichte, Sozialkunde, Politik, Religion, Philosophie etc.) im Vergleich zu anderen einschätzt, erfasst ein gutes Monitoring die persönliche Leistungskurve eines Kindes oder Jugendlichen auf diesem Gebiet.
Die Zumutung an Lehrer, jeden einzelnen Schüler in einen fortwährenden vergleichenden Bewertungszusammenhang zu stellen, ist ebenso untragbar wie die Zumutung an unsere Schüler, so etwas täglich über sich ergehen zu lassen. Das Menschenbild, das sich in diesem System widerspiegelt, passt schon lange nicht mehr in unsere hoch individualisierte Zeit. Ein hübsches Indiz dafür sind die von Jahr zu Jahr immer besseren Abiturnoten in fast ganz Deutschland. In gleichem Maße nämlich, wie die Zulassungsbeschränkungen von Universitäten ständig bessere Noten erfordern, werden diese von den Schulen auch erteilt – ein Spottlied auf die Mär einer objektiven Bewertung und Bewertbarkeit von Schülerleistungen durch Zensuren. Dieser Prozess wird sich in seiner bestechenden Logik durch nichts aufhalten lassen und die Noteninflation somit weiter anheizen. Dazu kommt: Seit unter Lehrern die Sensibilität dafür ausgeprägter geworden ist, was mit der Psyche eines Kindes geschieht, wenn es schlechte Noten erhält, vergeben mehr und mehr Lehrer seit etwa drei Jahrzehnten nur noch höchst selten und ungern richtig schlechte Zensuren, vor allem in den Nebenfächern. All dies sind untrügliche Anzeichen dafür, dass das alte Notensystem längst erodiert ist und zum Teil einzig der Form halber praktiziert wird – eine Form, deren Sinn sich überlebt hat.
Liegestühle auf der Titanic
An dieser Stelle wird es Zeit, auf einen wichtigen Einwand einzugehen, der dem einen oder anderen Leser vielleicht schon seit längerem im Hinterkopf sitzt: Sind unsere Schulen nicht längst viel besser geworden, als ich sie hier beschreibe? Hat denn der Autor dieses Buches nicht gesehen, wie viele Anstrengungen unsere Schulen, ihre Lehrer und Direktoren, die Didaktiker und Bildungspolitiker inzwischen unternommen haben, um die Qualität des Lernens voranzutreiben? Ist denn in Wahrheit nicht alles halb so schlimm?
Es gibt nicht nur private, sondern auch öffentliche Schulen, in denen inzwischen ein Fach wie » Lernen lernen « unterrichtet wird. Die Kinder lernen, sich ihre Aufgaben selbstständig einzuteilen, sie lernen wichtige Kniffe zum eigenen Forschen und Arbeiten. Orientierungslehrer kümmern sich mehr oder weniger liebevoll um den Nachwuchs und lassen ihn in der komplizierten Welt des Gymnasiums nicht allein. Einige Schulen bieten,
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