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Anna, die Schule und der liebe Gott

Anna, die Schule und der liebe Gott

Titel: Anna, die Schule und der liebe Gott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard David Precht
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Völlig Unbekanntes wird nicht verstanden. So drehten Forscher in den frühen neunziger Jahren einen Film über das moderne Großstadtleben in New York. Dann zeigten sie die Dokumentation einem indigenen Volk in einem philippinischen Bergwald. Gespannt warteten die Wissenschaftler auf die Reaktion des Publikums auf eine Welt, von der es bislang keinen Schimmer gehabt hatte. Zu ihrer Verblüffung ereiferten sich die Menschen des Bergwaldes nur über ein einziges Thema: » The chicken! « – » Welche Hühner? « , wollten die Forscher wissen. In ihrem Film waren Wolkenkratzer zu sehen gewesen, Straßenverkehr, U-Bahnen, Clubs, Restaurants, Geschäfte und so weiter – aber Hühner? Als sie das Bildmaterial ein weiteres Mal ansahen, gewahrten sie, dass irgendwann ein Lkw mit Hühnern durch die Straßen fuhr; er war für etwa zwei Sekunden im Bild. Und genau diese Nebensächlichkeit hatte beim Publikum für große Resonanz gesorgt – weil es das Einzige war, das die Menschen kannten. Alles andere hatten sie als völlig fremd und somit als beziehungslos für sich selbst gleich wieder aus dem Bewusstsein verloren. Wie vielen Schülern geht es im Mathe- oder Physikunterricht wie diesem Naturvolk? Und dass trotz aller weitverbreiteten Erkenntnis in der Pädagogik, dass man nur da etwas lernt, wo man einen Bezug zu sich selbst herstellen kann und sich emotional entsprechend sicher fühlt.
    Einsichten wie diese sind so alt wie die Pädagogik und wurden immer wieder neu formuliert, man denke etwa an die fünf didaktischen Grundfragen des einflussreichen Marburger Didaktik-Professors Wolfgang Klafki. Danach kann man Schülern nur dann erfolgreich etwas beibringen, wenn das Wissen für sie einen Wert hat. Nach Klafki müssen Kinder und Jugendliche das Gefühl haben, etwas mit dem Gelernten anfangen zu können, und zwar in der Gegenwart und/oder in der Zukunft. Besonderes muss daher immer im Hinblick auf ein allgemeineres Ziel gelernt werden, so wie umgekehrt Allgemeines nur am Beispiel gelehrt werden kann. Zu guter Letzt sollte sich der Lehrer darum bemühen, das zu Lernende so zugänglich, anschaulich und begreiflich wie möglich zu machen. Doch all dies wird an unseren Schulen angesichts der immensen Stofffülle, der Fünfundvierzig-Minuten-Taktung und der einzäunenden Fächergrenzen noch immer nicht ernsthaft umgesetzt.
    Zu Klafkis fünf Bedingungen, wodurch Wissen für Schüler einen Wert erhält, kommen weiterhin eine Reihe psychologischer Faktoren. Wer sich geborgen und verstanden fühlt, lernt leichter, als wenn sich jemand allein gelassen oder fremd fühlt. Auch milder Stress beim Lernen ist oft ein gutes Mittel, nicht nur, damit wir uns besser konzentrieren, sondern auch, damit das Geleistete oder Verstandene als besonders wertvoll empfunden wird. Wer etwas spielend leicht lernt, ist selten stolz darauf. Haben wir dagegen beim Lernen einen milden Stress empfunden, bewerten wir das Gelernte eher als sinnstiftend. Mühen und bewältigte Hindernisse stärken unsere Selbstbedeutsamkeit. Die Rede ist hier ganz ausdrücklich von mildem Stress und nicht von einem permanenten Bewertungssystem, das bei schlechteren Schülern Dauerstress und Prüfungsangst auslöst. Wer unausgesetzt unter hohem Stress steht, lernt nicht etwa besonders gut, sondern gar nicht. Ein mit Stresshormonen überschwemmtes Gehirn, insbesondere durch hohe Cortisol-Ausschüttungen, schädigt den für Gedächtnisleistungen wichtigen Hippocampus, mit den bekannten Nebenfolgen wie Schlaflosigkeit, Überreiztheit, Kopfschmerz, Nervenzittern und Vergesslichkeit.
    Alle wichtigen Faktoren des Lernens und des Lernumfeldes können nur dann greifen, wenn das Selbstverhältnis des Lernenden positiv ist. Wir neigen dazu, nur das mit Freude und Schwung anzugehen, was uns auch zu bewältigen erscheint, und vor dem zurückzuscheuen, was wir uns nicht zutrauen. Und wer sich ziemlich sicher ist, etwas zu schaffen, schafft dies viel leichter als der, der es sich nicht zutraut. Der Wert, den eine Sache für uns hat, hängt also einmal davon ab, wie hoch wir sie einschätzen, und zum zweiten, ob wir glauben, sie erreichen zu können. Ein Verhalten, das besonders an Hauptschulen zum Problem wird, wenn der Abschluss wegen der geringen Berufsperspektiven nicht als sonderlich wertvoll angesehen wird, aber gleichwohl als schwierig.
    Zusammenfassend gesagt, lernen unsere Kinder in der Schule dann optimal, wenn sie dem Lernen und dem Wissen einen Wert beimessen, sodass sie es

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