Anna, die Schule und der liebe Gott
die verschiedenen universitären Disziplinen schaffen es bislang nicht sonderlich gut, bei der Frage des Lehrens und Lernens zusammenzuarbeiten. Zu groß sind die Vorbehalte vieler Erziehungswissenschaftler gegenüber der Biologie; so wie umgekehrt viele Neurobiologen, die sich mit Lernen beschäftigen, keine allzu schmeichelhafte Einschätzung von der Arbeit von Geistes- und Erziehungswissenschaftlern haben. Immerhin geht es bei diesen Scharmützeln und Rechthabereien auch um Karrieren, um die Legitimität von Fachbereichen, um Selbstverständnisse, Weltbilder, Lebensleistungen, Eitelkeiten und die Zuteilung von Forschungsgeldern. So sind Lernpsychologen und Erziehungswissenschaftler oft nur bereit, die Neurowissenschaften als Hilfsdisziplin in ihr Fach aufzunehmen, zum Beispiel für Kernspinuntersuchungen von » Störungen « . Wohingegen manche Hirnforscher die Pädagogik allenfalls als » Erfahrungserziehungskunde « betrachten – analog zur » Erfahrungsseelenkunde « , der vorwissenschaftlichen Form der Psychologie. Für manche Neurobiologen sind Erziehungswissenschaften lediglich das letzte und problematischste Glied einer umfassenden Psycho-Neurowissenschaft des Lernens und Lehrens.
So war es wenig hilfreich, dass der Fachdidaktiker Gerhard Preiß, Professor für Didaktik der Mathematik an der Pädagogischen Hochschule in Freiburg, schon Ende der achtziger Jahre mit dem Begriff » Neurodidaktik « vorpreschte – zu einer Zeit, in der nicht einmal akzeptable bildgebende Verfahren zur Verfügung standen, um einen Blick ins lernende Gehirn zu werfen. Die harte Vorsilbe » Neuro « erschien damit über längere Zeit lediglich als ein Label, das (vor allem bei Männern) besser ankommen sollte als das weiche » Psycho « ; man denke nur an den ähnlichen Etikettenschwindel beim sogenannten Neuromarketing. Auf diese Weise hatten es die Erziehungswissenschaftler über zwei Jahrzehnte leicht, darauf hinzuweisen, wie unzureichend die technischen Möglichkeiten der Hirnforscher seien, um Lernprozesse im Gehirn sicher und aufschlussreich zu diagnostizieren. Hinzu kam, dass das, was die Verfechter einer » Neurodidaktik « sich unter gehirngerechtem Unterricht vorstellten, wenig Neues enthielt. Ging es doch in fast nichts über die hundert Jahre alten Wünsche und Vorstellungen der Reformpädagogik hinaus.
All dies spricht aber nicht dagegen, dass Hirnforschung, Lernpsychologie und Pädagogik zusammenarbeiten sollten. Die alten Fächergrenzen sind nicht mehr zeitgemäß, und die Diagnosetechniken der Neurobiologie verbessern und perfektionieren sich in ungeheurem Tempo. Und was die Übereinstimmung von neurodidaktischen Konzepten mit der Reformpädagogik anbelangt, so wird heute zu gesichertem Wissen, was vor hundert Jahren nur Meinung sein konnte. Dass Kognitions- und Lernpsychologen unter Einbeziehung der Neurobiologie gegenwärtig bestätigen, was Reformpädagogen schon seit langem fordern, ist kein Manko heutiger Forscher, sondern ein nachträgliches Lob für die einstigen Pioniertaten.
Zu den wichtigsten pädagogischen Herausforderungen an das Lernen und die Lernumwelten unserer Kinder gehört es, den Wissensstoff in der Schule fortwährend auf seine Anschaulichkeit hin zu überprüfen, insbesondere in oft als unanschaulich wahrgenommenen Fächern wie etwa Mathematik. Denn nur, was im episodischen Gedächtnis eine Bedeutung bekommt, hat eine gute Chance, auch vom semantischen Gedächtnis gespeichert zu werden. Wenn Sie sich meine Kritik am Auswendiglernen in der Schule einprägen werden, dann vielleicht deshalb, weil ich es mit der Arbeit von Springpferden verglichen habe. Reine Fakten sind noch viel schwerer zu erinnern, insofern sie nicht Teil eines spannenden Zusammenhangs sind. Wahrscheinlich werden Sie nicht mehr wissen, was Sie am 4. November 1989 gemacht haben. Aber sehr wahrscheinlich, wo Sie am 9. November 1989 waren, und vermutlich auch, was Sie an diesem Tag im Fernsehen gesehen haben. Natürlich ist dieser Zusammenhang allen Didaktikern und Lehrern längst bekannt – die Frage ist nur, ob die Möglichkeiten, Schulfächer anschaulicher zu machen, tatsächlich ausgereizt sind. Wie ich in den beiden nächsten Kapiteln zeigen möchte – vermutlich nicht. Das überkommene Schulsystem setzt der Anschaulichkeit viele künstliche Grenzen.
Die zweite Herausforderung ist, Lernen und Wissen in spannende Zusammenhänge zu stellen. Wir können nur lernen, indem wir etwas Unbekanntes auf Bekanntes beziehen.
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